KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2020
37 04 / 2020 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ A uf die globale Gesundheitsbedrohung durch die COVID-19-Pandemie muss schnell und direkt re- agiert werden. Frühere Epidemien wie Ebola-Ausbrü- che haben jedoch gezeigt, dass mehr Menschen an den indirekten Folgen sterben können als an der Krankheit selbst. Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) impft weltweit jedes Jahr fast zwei Millionen Kin- der gegen Masern und betreut mehr als 300000 Gebur- ten. Drei Viertel der 70 Projekte, die MSF Schweiz heu- te weltweit betreibt, umfassen pädiatrische Aktivitäten. Auch wenn die COVID-19-Mortalitätsrate bei Kindern vergleichsweise niedrig ist, darf sie nicht unterschätzt werden. Es sind aber vor allem die indirekten Folgen von COVID-19, die uns derzeit Sorgen machen. So befürchten wir beispielsweise einen signifikanten Anstieg der Kindermorta- litäts- und -morbiditätsraten. Dies liegt vor allem an mangelnden Präventiv- massnahmen wie Impfungen und Ma- laria-Vorbeugung, aber auch an nicht stattfindenden Konsultationen und dem erschwerten Zugang zu Gesund- heitszentren für sichere Entbindungen. Eine erste Studie der John-Hopkins-Uni- versität zeigt, dass täglich bis zu 6000 Kinder an den indirekten Folgen von COVID-19 sterben könnten. In Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo und in den Rohingya- Flüchtlingslagern in Bangladesch haben wir in den vergangenen Jahren eine er- neute Zunahme von Krankheiten wie Masern und Diphtherie beobachtet. Entsprechende Ausbrüche werden sich häufen, weil die Impfaktivitäten in meh- reren Ländern aufgrund von COVID-19 ausgesetzt werden. Seit dem Jahr 2000 konnten durch Masernimpfungen mehr als 20 Millionen Todesfälle bei Kindern verhindert werden. Wenn nun weni- ger Kinder geimpft werden und diese gleichzeitig wegen der prognostizier- ten Nahrungsmittelunsicherheit in vie- len ärmeren Ländern geschwächt sind, könnte es zu einer verheerenden Umkehrung dieses Fort- schrittes kommen. In Nepal ist die Rate der Fehlgeburten seit diesem März um 50 Prozent gestiegen, und das Risiko der neonatalen Mortalität hat sich im gleichen Zeitraum mehr als ver- dreifacht. Das ist hauptsächlich auf den von der Regie- rung verhängten Lockdown zurückzuführen, wodurch Betroffene keinen Zugang mehr zu Gesundheitsdiens- ten haben. In anderen Kontexten, wie beispielsweise ei- ner MSF-Geburtsklinik in Nablus im Irak, mussten unsere Teams aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu ande- ren Gesundheitszentren als Folge der COVID-19-Pande- mie deutlich mehr Geburten betreuen. Angesichts von COVID-19 mussten wir im Niger und in Kamerun unsere Vektorkontroll- und Präventionsmass- nahmen im Zusammenhang mit Malaria reduzieren oder einstellen. Kinder gehören zur grössten Risikogruppe für wiederkehrende Malariainfektionen, die unter anderem chronische Anämie zur Folge haben können. Darüber hinaus können Angst und Missverständnisse über COVID-19 auch dazu führen, dass Eltern ihre Kinder nicht oder zu spät für eine lebensrettende Behandlung in Gesundheitseinrichtungen bringen. Dies wird sogar aus Ländern mit hohem Einkommen berichtet – an Orten mit weniger Ressourcen und schwächeren Gesundheitssyste- men wird es zweifellos grössere Folgen haben. In welchem Ausmass Organisationen wie unsere den Tod von Kindern verhindern können, hängt davon ab, lebens- rettende Aktivitäten im Bereich der Kindergesundheit aufrechtzuerhalten und auszuweiten. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Pandemie die nächste Generation ihrer Zukunft beraubt. ■ DR. MED. MPH DANIEL MARTINEZ GARCIA KINDERARZT BEI MSF SCHWEIZ IM NAMEN DER PÄDIATRISCHEN ARBEITSGRUPPE VON MSF, GENF Korrespondenzadresse: daniel.martinez@geneva.msf.org Fehlende Impfungen, erhöhte neonatale Mortalität und Mangel- ernährung: Die direkten und indirekten Folgen von COVID-19 für Kinder in ärmeren Ländern sind dramatisch. «Wir können nicht zulassen, dass diese Pandemie die nächste Generation ihrer Zukunft beraubt» Eine Konsultation im Gesundheitszentrum von Kourgui im Norden Kameruns. Der Fo- kus der MSF-Teams liegt auf der reproduk- tiven Gesundheit und der Betreuung von mangelernährten Kindern unter fünf Jahren. Foto: Pierre-Yves Bernard/MSF Eine Gesundheitspromotorin von MSF in- formiert Patientinnen in der Entbindungs- station in der MSF-Geburtsklinik in Nablus im Irak zum Thema Stillen. Foto: Manhal Alkallak/MSF MSF-Arzt Dr. Jean-Paul Kasolwa Haraka behandelt ein an Masern erkranktes Mädchen im Alter von dreieinhalb Jahren im Spital Biringi im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo. Foto:Alexis Huguet/MSF
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