KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2020

29 04 / 2020 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ I m Frühling dieses Jahres musste ich innert wenigen Wo- chen bei zwei Jugendlichen in meiner Praxis die Dia- gnose einer Anorexia nervosa stellen und bei einem wei- teren Mädchen, bei welchem im Januar eine restriktive Essstörung diagnostiziert wurde, eine rapide Verschlech- terung feststellen, welche eine notfallmässige Hospita- lisation nötig machte. Zuvor hatte ich jahrelang keine Jugendlichen mit derart schweren und schnell voran- schreitenden Essstörungen gesehen. Zufall? Leider nein, wie ich in Gesprächen mit Dr. med. Christian Wüthrich, Leiter Kinderpsychiatrie Inselspital Bern, und mit Dr. med. Bettina Isenschmid, Chefärztin Kompetenz- zentrum für Adipositas, Essverhalten und Psyche KEA im Spital Zofingen, erfahren habe. Tatsächlich nahm die Zahl der neudiagnostizierten An- orexien nach dem Lockdown schweizweit in allen Regi- onen zu. Bettina Isenschmid schätzt eine Zunahme um bis zu 20%, v.a. bei der restriktiven Form der Anore- xia nervosa und bei den jungen Patientinnen. Sie meint, dass viele subklinische Patientinnen in der Lockdown- Phase erst aufgefallen sind und latente Störungen eska- liert sind. Christian Wüthrich sieht die Gründe darin, dass der Verlust der Strukturen, wie Schule oder Ausbildungs- stelle, die Patientinnen mit latenten Störungen psychisch destabilisiert hat sowie umgekehrt die sozialen Kontrol- len durch Mitschüler und Lehrer weggefallen sind. In der Isolation haben viele Betroffene ihre Restriktionen ver- stärkt, aus Angst zuzunehmen, weil sie zu Hause blei- ben mussten und Fitnessstudios etc. geschlossen waren. Andererseits ist den Eltern vielleicht erst jetzt aufgefallen, wie wenig ihr Kind isst, da Ausreden wie «ich habe schon in der Schule gegessen» nicht mehr möglich waren. An- dere hingegen sind ohne Kontrolle stundenlang Joggen gegangen oder haben eine andere exzessive Form ihres Bewegungsdranges vermehrt ausgelebt. Konfliktscheue Familien, wie sie typisch bei Anorexien vor- kämen, seien auf sich gestellt gewesen. Ansprechpartner haben gefehlt, da in vielen Zentren nur Notfälle behandelt wurden. (Binge Eater gehören häufig zur Risikogruppe mit Hypertonie etc. Schwer Untergewichtige haben vermehrt Angst, eine Corona-Infektion nicht zu überstehen.) Isenschmid hat aber an ihrem Zentrum auch festgestellt, dass 80% der Patientinnen, welche bereits in der Be- handlung und auf demWeg der Besserung waren, mehr Probleme zeigten. Dies zeigte sich auch bei der Grup- pe der Binge Eating Disorder Betroffenen und besonders stark bei den Adipösen. Hier ist die verminderte Bewe- gungsfreiheit und eingeschränkte körperliche Aktivität klar im Zusammenhang. Homeschooling, mehr Fernseh- konsum und Hamsterkäufe haben auch bei vielen Kin- dern zu einer vermehrten Gewichtszunahme geführt. Hierzu ist im Kanton Zürich anscheinend eine Studie in der Auswertung. Der Einfluss von COVID-19 auf Essstörungen wird auch in anderen Ländern als hoch eingeschätzt. Auf medRxiv ist eine Studie vorveröffentlicht, in der im April/Mai 2020 1000 Patientinnen mit Essstörungen (60% Anorexien) zwischen 16 Jahren und 60 Jahren (500 aus den USA und 500 aus den Niederlanden) on- line befragt wurden, welche Auswirkungen die Corona- massnahmen auf die psychische Gesundheit und die Ausprägung bezüglich des Essverhaltens haben. Dass die Corona-Pandemie einen negativen Einfluss auf die psy- chische Gesundheit v.a. bei Patienten mit vorbestehen- den psychischen Krankheiten wie Depressionen, Angst- störungen und posttraumatische Belastungsstörungen hat, war schon bekannt. Dass dies auch für Essstörun- gen zutrifft, zeigen diese ersten Daten. Auch wenn wir wohl keinen Lockdown mehr zu erwar- ten haben bei uns, gilt es achtsam zu sein. Die besonde- ren Umstände werden uns noch länger begleiten. Das Thema Essen ist seit dem Lockdown auch vermehrt ein Thema in den Medien. Gesund essen, um sein Immun- system zu stärken, kein Fleisch, weniger tierische Eiweis- se, mehr Vitamine, um Corona zu trotzen. Orthorexie ist eine eigenständige Form der Essstörung und kann eben- falls zu einem relevanten Gewichtsverlust führen, meint Christian Wüthrich. Für Bettina Isenschmid ist klar, dass bei erneut verschärf- ten Massnahmen der Zugang zur spezifischen Behand- lung nicht eingeschränkt werden darf. Telemedizin ist keine Alternative für die regelmässigen ärztlichen und therapeutischen Sitzungen. Welche Rolle hat der Kinderarzt in der Praxis? Christian Wüthrich sieht hier eine wichtige Rolle. Bei auffälliger Ge- wichtskurve müssen die richtigen Fragen gestellt werden. Nicht jede Anorexie präsentiert sich immer mit allen klas- sischen Symptomen. Bei Verdacht muss regelmässig und konsequent in Verlaufskontrollen der Gewichtsverlauf beobachtet werden. Nicht selten versuchen hier Familien dies unter dem Druck der Tochter hinauszuschieben. Die Vernetzung mit einer auf diesem Gebiet erfahrenen Psy- chotherapeutin und Ernährungsberaterin ist nicht immer einfach, aber nötig, ebenso der regelmässige Austausch und die Absprache des Aufgabenbereichs und Festlegung von klaren Grenzen, z.B. für den Abbruch der ambulan- ten Therapie bei ungenügendem Erfolg. Ich danke Bettina Isenschmid und Christian Wüthrich für die interessanten Gespräche und die fachliche Unterstüt- zung. ■ DR. MED. STEFANIE GISSLER WYSS MITGLIED REDAKTIONS- KOMMISSION, NEUENDORF Korrespondenzadresse: s.gissler@hin.ch Der Einfluss der Corona-Pandemie auf Ess- störungen – gibt es einen Zusammenhang? LITERATURHINWEIS: Early Impact of COVID-19 on Individuals with Eating Disorders: A survey of ~1000 Individuals in the United States and the Netherlands, Jet D. Termorshuizen et al. medRxiv preprint doi: https://doi.org/10.1101/2020.05.28.20116301

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