KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2020
28 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 04 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ D ass das Coronavirus Kinder weniger krank macht als vor allem ältere Erwachsene, ist uns ja hinlänglich be- kannt. Doch die veränderten Bildschirmgewohnheiten und vielleicht auch stressbedingt sind im letzten halben Jahr in der kinderophthalmologischen Sprechstunde einige Krank- heitsbilder gehäuft und auch verstärkt aufgetreten. Im Ge- spräch mit Yael Bellaïche, Kinderophthalmologin in Zürich, haben wir diese etwas genauer angesehen. Die Schulkinder lesen schlechter Neue Krankheitsbilder – als Assoziation mit dem bekannten Kawasaki-like-Syndrom (PIMS) – sind in der Ophthalmolo- gie bei Kindern nicht beobachtet worden. Aufgefallen sind jedoch assoziierte Phänomene: So haben alles in allem die Primarschulkinder deutlich schlechter gelesen; dies als Folge des Lockdowns der Schulen, kombiniert mit der Überforde- rung der Eltern, diese Aufgaben zu übernehmen und auch der ungewohnten Situation für Lehrpersonen, gerade das Lesen von Texten regelmässig zu üben. Die Kinder sind mit der Strukturlosigkeit überfordert gewesen und haben na- türlich viel «gegamed» und nicht strukturierte soziale Kon- takte über moderne Medien gepflegt. Dr. Bellaïche konnte aber einen Unterschied zwischen Familien mit Bildungshin- tergrund und solchen ohne entsprechende Bildung beob- achten. Ganz ähnlich erlebte sie den Übergang in den Nor- malunterricht. Er stellte für die Kinder und Lehrpersonen einen hohen Anspruch dar, da häufig die Routine gerade für Lesen und leseassoziierte Tätigkeiten gefehlt hat. Die Kinder sehen schlechter Eine Zunahme von Myopien ist nicht nur den Ophthalmo- loginnen, sondern auch den Kinderärzten aufgefallen. Dies sowohl hinsichtlich von Visusverschlechterungen bei be- kannter Myopie als auch bezüglich Neudiagnosen. Grund dazu sei einerseits die verschlechterte Therapieadhärenz – Brillen wurden nicht getragen, Therapien wie z.B. Atropin- tropfen wurden nicht regelmässig durchgeführt –, anderer- seits aber auch die langen Bildschirmzeiten zu Hause. Diese führen zu einer Veränderung des Bulbuswachstums und dadurch zur irreversiblen Myopie. Gerade im Lockdown seien viele Kinder über längere Zeiträume sowohl zum Spielen als auch zur Beschulung am Bildschirm gesessen. Dies hat eine grosse Auswirkung auf das Augenwachstum, welche deutlich stärker ist als die bereits bekannte Myopie der «Leseratten» und Studenten. Denn der Bildschirm ist addiktiver und die Augen bleiben über längere Zeiten im Nahfokus fixiert. Beim analogen Lesen hingegen wird im- mer wieder eine Pause eingelegt und die Augen erhalten eine Erholungszeit. Auch die langen Zeiten, die im Inneren verbracht werden, sind nicht gesund für unsere Augen. Das Innenlicht ist rund zwanzig Mal schwächer als nor- males Tageslicht und Lichtdeprivation führt zu verstärktem Bulbuswachstum. Die Ursachen dafür sind nicht ganz ge- klärt – möglicherweise handelt es sich um eine direkte lo- kalhormonelle Wirkung von Dopamin auf das Wachstum der Bulbi. Folgendes wurde aber in diversen Studien in nor- dischen Ländern gezeigt: Im langen nordischen lichtarmen Winter wachsen die Bulbi schneller und damit kommt es auch zur rascheren und stärkeren Myopie. Andere Studi- en zeigten auch eine genetische Komponente: Angehöri- ge von Völkern, welche schon früh Schriftzeichen hatten, neigen häufiger zur Myopien als solche, welche sich erst vergleichsweise spät schriftlich ausdrückten. Möglicher- weise führte aber auch umgekehrt die vermehrte Myopie- neigung zu vermehrtem Interesse an der «nahen» Schrift – anstelle des Jagens in der Wildnis. Die Kinder zeigen auffälliges Schielen Ein eher seltenes Krankheitsbild ist das Franceschetti-Schie- len. Dieses plötzlich auftretende, nicht regrediente Innen- schielen ist Folge einer zentralen Fusionsproblematik. Die- se ist assoziiert mit Stress und Bagatelltraumen, wird aber auch nach Impfungen beschrieben. Zentral raumfordende Prozesse werden kaum als Ursache gefunden. Diese Schiel- form hat Frau Bellaïche im letzten halben Jahr gehäuft ge- sehen. Die Ursachen dafür sind ihr nicht klar; sie vermutet aber eine stressassoziierte Ursache und eher keine immu- nologische oder neurologische Störung. Leider bleibt diese Schielform auch längerfristig bestehen. Was können wir also besser machen? Aufgrund der beschriebenen Phänomene empfiehlt Yael Bellaïche für Kinder, welche aus elterlichen Gründen nun im Homeschooling sind und bei einem allfällig erneuten Lockdown darauf zu achten, dass die Kinder (und Erwach- senen) genügend Zeit am Tageslicht verbringen. Das hoch- gelobte Homeschooling über Skype und ähnliche Medien muss überdacht werden und darf sicher nicht über stun- denlange Unterrichtsblöcke hinweg durchgeführt werden. Überhaupt muss in einem solchen Fall unbedingt auf die gesamte Bildschirmzeit geachtet werden und den Grund- satz «wenn schon am Bildschirm, dann bitte im Freien!» – also im Tageslicht und nicht in der guten, aber relativ dunk- len Stube. Als Game empfiehlt sie z.B. Pokemon Go, da dieses mit Bewegung, Abwechslung der Fixation und Ta- geslichtkontakt verbunden ist. Allenfalls müssen gerade auch die Familien, welche nun Homeschooling machen, vermehrt auch auf die sozialen Aspekte achten, welche die Isolation und auch die ständige «Verängstigung» durch die Eltern bei den Kindern auslöst. Hier gilt es insbesondere für Kinderärzte genau hinzusehen. Wir danken dir, Yael, für deine interessanten Aspekte, auf welche du uns in diesem Interview hingewiesen hast. ■ DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM MITGLIED REDAKTIONS- KOMMISSION, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch Interview mit Dr. med. Yael Bellaïche, Fachärztin FMH Ophthalmologie, Talacker Augen Zentrum, Zürich «Augen-Blick auf die Corona-Zeit»
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