KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2020

39 02 / 2020 LESERBR I EF K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Sehr geehrte / liebe Kolleginnen und Kollegen, Im Themenheft «Integrative Pädiatrie» (1/20) widmet sich unser Berufsverband den alternativen Praktiken, die ja bekanntlich von vielen Kollegen bereits seit langer Zeit angewandt werden. Persönlich arbeite ich soweit möglich nach der evidenz- basierten, wissenschaftlich fundierten Medizin. Das de- klariere ich auch den Eltern meiner Patienten und sehe absolut keinen Grund, mich dafür zu entschuldigen. Ich mache dies aus berufsethischen Überlegungen mit Über- zeugung. Erfahrungen mit Alternativpraktiken machte ich schon früh, weil meine Mutter mich auch «integra- tiv» behandelte und ich mit besonderem Interesse fakul- tative Vorlesungen als Student und Weiterbildungen als Arzt dazu besuchte. Ausserdem erlebte ich «traditionell chinesische Medizin» live, als ich einige Jahre als junger Erwachsener im fernen Osten lebte. All dies hat bei mir meine jetzige Einstellung geprägt. Interessanterweise ge- schieht das auch bei anderen Kollegen, die noch weit- aus mehr davon verstehen und sich auf wissenschaft- licher Basis mit Alternativpraktiken auseinandersetzen. Ich möchte dabei auf die exzellenten Arbeiten von Prof. E. Ernst, emeritierter Professor für Alternativmedizin in Grossbritannien und erster Lehrstuhlinhaber in diesem Gebiet verweisen! Ein paar Anmerkungen seien erlaubt: Die Begriffserläute- rungen alleine sind irreführend (Tabelle 1): die «konven- tionelle Medizin» ist NICHT nur in westlichen Ländern die vorherrschende Medizin, sondern weltweit! Es ist so- gar so, dass Alternativpraktiken eher eine Wohlstandsge- sellschafts-Erscheinung sind. Dass die «Komplementäre Medizin» die «konventionelle» erweitert und die Impli- kation, dass der Schulmedizin etwas fehlt, was diese zu bieten hat, ist hochgradig fragwürdig, wenn nicht an- massend. Der Definition der «Integrativen Medizin» ent- nehmen wir, dass diese, angeblich im Gegensatz zu der konventionellen Medizin, ganzheitlich (was immer das heisst!) sei und auf interprofessionelle Zusammenarbeit fokussiere. Die Unterstellung, dass Schulmediziner dies nicht tun, ist geradezu stossend! Diese plakative, stereotype Darstellung des evidenz- basiert arbeitenden Mediziners, der nichts zu bieten hat als rein rationale, «technisch machbare» Behandlungen und weder Empathie noch Gefühle oder eine ganzheitli- che Betreuung bieten kann, ist nicht nur falsch, sondern ein Affront gegen alle von uns, die bewusst davon ab- lassen, Therapien zu praktizieren oder zu verordnen, die durch keine solide Evidenz gestützt werden. Hat Kollege Huber wirklich noch nie einen guten Schulmediziner ken- nengelernt? Selbstverständlich gibt es Doktoren, die in ihrem Patienten nur ein zu behandelndes Objekt sehen. Und genauso selbstverständlich gibt es diejenigen, die einfach «Kügeli» abgeben, ohne sich für die Gefühle der Patienten zu interessieren. Und, sind wir ehrlich: Keine 10% der Kollegen die z.B. «homöopathisch» arbeiten, haben Hahnemanns Philosophie studiert (eine Grundvo- raussetzung!) und könnten rechtmässig behaupten, Ho- möopathie als solche zu praktizieren. Interessant ist das «pragmatische Schema» zur Auswahl/ Empfehlung von Therapien (Abbildung 1): Ist eine Thera- pie nicht sicher, wird sie «vermieden» oder «überwacht» (Letzteres wäre ethisch schwer zu vertreten). Das Pro- blem ist nur, dass eben genau diese Beurteilung bzgl. Sicherheit bei allen Alternativpraktiken aufgrund der mangelnden Evidenz fehlt! Genau deshalb ist ja die evi- denzbasierte, wissenschaftliche Medizin das Beste, was wir haben (auch wenn kein seriöser Arzt je behaupten würde, dass sie keine Schwächen hat). Wie im Artikel richtigerweise beschrieben, waren früher die experimen- tellen und überlieferten Behandlungen «Mainstream» und wohl das Beste, was man damals hatte. Aber seit Beginn der Schulmedizin, die unbestreitbar mehr für das physische Wohlergehen der Patienten getan hat als alles andere, wurden wir von der Quacksalberei befreit und sind von vielen falschen Theorien emanzipiert worden, die damals kursierten. Dass heutzutage noch Menschen zurück zu den anekdotisch basierten Therapien wollen, ist ein Armutszeichen. Dass es Ärzte gibt, die das un- terstützen, ist berufsethisch erklärungsbedürftig, um das Mindeste zu sagen! Es tut mir leid, Kollege Huber, wenn ich Ihnen hiermit et- was auf die Füsse trete, aber das ist ganz gegenseitig. Es ist mein Anliegen, dass mein Berufsstand den Patienten das Beste gibt, was unsere Medizin zu bieten hat. Kom- promisslos. Die Tatsache, dass derart viele Kollegen sich alternativer Praktiken bedienen, verleiht diesen kein biss- chen Legitimität. Im Gegenteil: Diese Praxis bringt uns kollektiv in Verruf, weil man sich als Patient nicht mehr darauf verlassen kann, dass man nach den besten und höchsten Standards behandelt wird, sondern mitunter nach substandard experimentellen Methoden. Es wird natürlich oft argumentiert, dass die Patienten dies wünschen. Mag sein. Wer sich aber als reiner Dienstleis- ter degradiert, müsste konsequenterweise auch jedem, der dies wünscht, ein Antibiotikum geben, auch wenn er weiss, dass dies medizinisch falsch und mit Risiken behaf- tet ist. Oder können wir nach dem Prinzip des «nützt’s nüt, so schad’s nüt» verfahren? Natürlich nicht! Jeder, der sich auch nur ansatzweise seriös mit der Materie be- schäftigt hat, weiss, dass die Anwendung von Alternativ- praktiken auch regelmässig zu ernsthaften Folgen führt. Erstaunlicherweise schaffte es vor einem Jahr sogar eine Publikation über Arsenvergiftung unter homöopathi- DR. MED. CHRISTIAN DE GARIS FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH RATHAUSGASSE 9 4800 ZOFINGEN Korrespondenzadresse: degaris@hin.ch Leserbriefe «Integrative Pädiatrie» (KIS News NR. 1/2020)

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