KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2020
17 02 / 2020 COV ID- 19 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Ich höre von einigen Familien und erlebe es selbst auch so, dass die Kinder seit dem Lockdown viel ausgeglichener und ruhiger sind. Wie ist das zu erklären? Das habe ich Ihnen ja schon oben beschrieben. Mehr Zeit für sich selbst, weniger Arbeitsstress, weni- ger «Sklave der Zeit» – mehr Fokussierung auf die Fa- milie und das Zusammensein zu Hause. Kein Reise-/ Wander-/Ausflugsstress, man muss auch niemandem er- zählen, wo man an Ostern überall gewesen ist. Das bringt einfach viel mehr Ruhe in unseren so hektischen Alltag. Ich hoffe sehr, dass wir diese Erkenntnis auch dann an- wenden können, wenn wir wieder stressen «dürfen» – es ist wirklich so: Weniger ist mehr! Viele Kinder werden heutzutage fast ganztags fremd betreut. Für manche Eltern kann dies eine Herausforderung sein, für andere eine Bereicherung, nun so viel Zeit mit den Kindern verbringen zu können. Sehen sie auch Chancen für Familien, die die Quarantäne bringen könnte? Es gibt hier kein richtig oder falsch, sondern ein «mei- ner Lebenssituation und meinem Lebensbild angepasst oder eben nicht». Für viele Frauen ist die Möglichkeit eines Lebens neben der Familie eine grosse und wich- tige Bereicherung, ja ein Ausgleich zum «öden» Fami- lienalltag. Aber für viele ist es auch ein Druck: oft ein wirtschaftlicher, da wirklich nur zwei Verdienende ge- nügend Geld heimbringen. In vielen Familien sehe ich hingegen auch einen sozialen Druck, dass die «glückli- che», die «ausgeglichene» Mami auch arbeiten geht, dass man etwas erzählen kann von der Arbeit, manch- mal auch, weil man sich einen Lebensstil leisten will, den es vielleicht gar nicht so braucht. Hier sehe ich eine grosse Chance, dass diese Wochen des erzwunge- nen Rückzugs zu einer Klärung der Situation für einige Familien führen werden. Soll ich meinen Kindern aktuell ohne Weiteres erlauben, länger aufzubleiben, auszuschlafen und mehr Zeit vor dem TV und dem iPad zu verbringen? Tja, die Gretchenfrage! Das hängt wieder von den eige- nen Ressourcen ab. Will/kann ich meine Familie wirklich ständig unterhalten? Bin ich der Basteltyp, der Organisa- tionstyp, die Musikerin, die Hobbyköchin? Oder bin ich eben doch auch selbst gern am Ausschlafen, am «Inter- nethängen» oder am die Seele baumeln lassen? Und sind meine Partnerin und meine Kinder auch ähnlich gepolt? Es gibt hier keine fixen Vorgaben. Grundsätzlich aber gel- ten auch hier die bekannten «Fit»-Regeln (nach Remo Largo) – wenn es passend ist, dann funktioniert es ein- fach besser. In unserer Familie schlafen alle länger und bleiben länger auf. Meine Frau liebt «Netflix» – wie soll sie den Kindern dann den iPad gross einschränken? Ich liebe das Lesen und einige unserer Kinder lesen nun wirk- lich viel mehr. Es ist aber wichtig, dass man doch Regeln vereinbart, an die sich die ganze Familie halten können. Corona versetzt uns alle ist eine Ausnahmesituation. Was sind generell Ihre Empfehlungen an eine Familie, die nun zu Hause sitzt, damit es nicht eskaliert? Erstens: Schauen Sie als Eltern, dass es Ihnen selbst eini- germassen gut geht. Dann können Sie auch für die an- deren schauen. Dazu gehört: regelmässiger Tagesablauf – Anziehen der normalen Kleider, fixe Mahlzeiten für alle, mindestens einmal an die frische Luft, körperliches Trai- ning von mindestens 30 Minuten und bitte: nicht jeden Morgen als erstes im Netz die Erkrankungs- und Todes- fallzahlen von COVID-19 konsultieren! Überhaupt: Lassen Sie nur ganz beschränkt die instrumentalisierte Verunsi- cherung der Medien auf sich einwirken!!! Zweitens: Gute Einteilung der Betreuungszeit durch die Eltern. Also nicht immer alle mit allen! Drittens: Gemeinsame Erlebnisse – dies können Spie- le sein, Kochen, aber auch gemeinsames Filmeansehen, über die man diskutieren kann, Helfen mit Schulaufgaben etc. sein. Auch ist es möglich, gemeinsammit anderen Fa- milien über Zoom oder andere Kanäle verbunden etwas zu basteln, zu spielen etc. Dies führt zu mehr Abwechs- lung. Wir haben hier zum Beispiel auch das Angebot für gemeinsames Spielen über Zoom für Eltern mit 3–5-Jähri- gen über 1½ Stunden jeden Morgen. Je mehr Energie ich als Vater/Mutter habe, desto besser kann ich meine Kin- der in meinen Alltag einbinden. Viertens: Gerade Jugendliche brauchen genügend Frei- raum für ihre pubertierenden Probleme. Das heisst genü- gend virtuelle, aber auch – insoweit als möglich kontrol- lierbare Raum-reale Treffen, wenn möglich mit «physical distancing». Sich aber auch genügend Zeit nehmen, um zuzuhören, denn hier haben wir gerade in dieser Situa- tion eine grosse Chance, dass wir die Jugendlichen auch richtig wahrnehmen können. Fünftens: Wenn es ungemütlich wird, auch eine Auszeit nehmen, das heisst Konflikte nicht in dieser eigenen Situ- ation austragen. Falls das nicht geht, gibt es unterdessen viele Hilfsangebote von Familienstellen, Sozialhilfe und Psychologen, um gerade Familien darin zu unterstützen. Diese würde ich grosszügig einbeziehen. Gibt es etwas, was Sie als Kinderarzt und Vater den Eltern mit auf den Weg geben möchten? Liebe Familien – nützt die wertvolle Zeit und schaut auf das Positive, das die COVID-19-Massnahmen gerade für Familien gebracht haben. Ich bin stolz, dass wir in einer Gesellschaft leben, welche sich um Gefährdete kümmert und sich mit ihnen solidarisiert; einer Gesellschaft, die sich auch um daraus erfolgende finanzielle Notlagen kümmert und in welcher der Wert des eigenen Egos der Gemein- schaft mindestens gleichgestellt und sogar untergeordnet wird. Dies alles sind Werte, die wir in der Familie im Klei- nen als so wertvoll sehen und die wir vor lauter Sorgen nicht vergessen sollten. Also: am Morgen aufstehen mit der Freude, wieder kleine oder grosse Erlebnisse mit un- seren Kindern zu erleben und auch mit dem Bewusstsein, dass wir gemeinsam gestärkt aus dieser Situation heraus- kommen werden. ■
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