KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2020
15 02 / 2020 COV ID- 19 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ A nfang Februar 2020 schüttelte ich noch erstaunt den Kopf, als ich am Flughafen von Athen Passagiere sah, die Schutzmasken trugen. Was für ein ungewöhnlicher Anblick! Anfang April 2020 ist die Schutzmaske auch zu meinem täglichen Begleiter geworden. Ich muss sie nun während jedem Arbeitstag tragen. In Athen waren mir zwei Dinge noch nicht bewusst: Es war das letzte Mal, dass ich so unbeschwert reisen konnte, und dieses Coro- navirus ist nicht so harmlos, wie es mir anfangs erschien. Während ich noch vor kurzer Zeit brav jeden Dienstag und Donnerstag die Schulbank gedrückt habe, setze ich mich nun an diesen beiden Tagen frühmorgens vor den Computer in meinem Zimmer, um mir den Stoff selbst anzueignen, welchen uns sonst die Lehrer persönlich schmackhaft machen wollen. Auch bei der Arbeit gibt es täglich viele Veränderungen. Jeden Montag wird um 7.45 Uhr ein Briefing abgehalten, bei dem uns die Ärz- tinnen auf den neusten Stand bringen. Dies kann Fach- liches beinhalten wie neue Corona-Tests oder Soziales, zum Beispiel wie wir das Problem lösen, dass einige äl- tere Patienten gerne jeden Tag vorbeischauen, um zu plaudern. Unser Team hat das Glück, in einem Gebäu- de zu arbeiten, in welchem das Stockwerk unter der Pra- xis momentan nicht genutzt wird. So konnten wir uns dort kurzfristig einquartieren und unsere eigene Corona- Ambulanz aufbauen. Das heisst, dass jeder Patient, der Husten, Schnupfen, Halsschmerzen oder allgemeine Grip- pesymptome hat, dort behandelt wird. Eine MPA ist im- mer zuständig für diesen dritten Stock, misst Fieber sowie die Sauerstoffsättigung und erfasst eine kurze Anamne- se. Wir tragen Schutzmasken, Schutzbrillen, Handschu- he und Schutzmäntel. Ich finde es fantastisch: Wir haben einen Laptop, funktionierendes Internet, wichtige Uten- silien und sogar mithilfe von einem Paravent Unterteilun- gen in diesem grossen, leeren Raum geschaffen. Das al- les haben wir innerhalb von nur einer Woche aufgebaut. So etwas zeigt uns auch positive Seiten dieser Krise auf: Wie spontan und kreativ wir alle sein können. Und dass wir eigentlich flexibler sind, als wir manchmal denken. Leider ist nicht alles immer so rosig. Oben, im vierten Stock, ist die schwierigste Arbeit momentan am Telefon. Scheinbar über Nacht sind die nackte Angst und Panik den Leuten in den Kopf gekrochen. Ich habe realisiert, dass ich keine Angst vor dem Virus an sich habe, eher davor, was es mit einer Gesellschaft oder ihren einzelnen Personen anstellen kann. Das Wissen, dass viele Leute in einer Existenzkrise stecken und wie viele Leute ihre Arbeit verlieren oder keine Zukunft mehr sehen, stimmt mich sehr nachdenklich. Auch wenn meine Zugverbindungen nun nicht mehr so regelmässig fahren und ich oft sehr früh aufstehen muss, so bin ich dennoch unendlich dank- bar, arbeiten gehen zu dürfen und mit dieser Arbeit vie- len Menschen das Leben zu erleichtern und Dankbarkeit dafür zu erfahren. Ich vermisse es, mit meinem Freund ins Kino zu gehen, oder mit Freunden zu Techno in einem kleinen Club zu tanzen. Falls ich Freunde zu mir einlade, sitzen wir zu zweit vor einer Flasche Wein und sinnieren über die- ses komische Virus, das uns einen Strich durch sämt- liche Rechnungen gemacht hat. Konzerte, Festivals, Ferien und Ausflüge können wir alle erst einmal verges- sen. Doch davon abgesehen, spüre ich die Entschleuni- gung meines privaten Lebens als positive Reaktion auf COVID-19. Ich nehme mir jeden Tag Zeit, um mit meinen Eltern oder Grosseltern zu telefonieren, zudem schreibe ich jede Woche mehrere handschriftliche Briefe an Freun- de. (Die ersten Antworten und Reaktionen darauf waren sehr rührend.) Ich erlebe eine neue Form von Kontakt- pflege. Sie ist nicht so innig und nah, wie ich es früher gekannt habe, doch ich spüre ein starkes Gefühl von So- lidarität und Gemeinschaftssinn. Natürlich rege ich mich darüber auf, wenn es im Coop keine Zutaten mehr gibt für ein Essen, das ich gerne gekocht hätte oder ich gar nicht mehr weiss, wie ein gefülltes Klopapier-Regal aus- sieht in einem Supermarkt. Aber all das ist total okay. Es tut uns allen gut. Wir sind durch diese Situation gezwun- gen, zusammenzuhalten und nicht nur an uns selbst zu denken, denn sonst haben wir am Ende dieser Pande- mie nicht nur Corona, sondern eine wahrliche Krise. Wir waren uns stets gewöhnt, alles was wir wollten in die- ser Form, wie wir es begehrten, praktisch sofort zu er- halten. Das Coronavirus erteilt uns hier eine Lehre, die uns allen guttut. Manchmal fällt mir in meiner Stadtwohnung während einem «Schultag» die Decke auf den Kopf vor lauter Home-Schooling und Social Distancing. Dann mache ich einen Spaziergang durch die Strassen im Kreis 4, an de- nen zurzeit Kirschbäume blühen. Während ich an Leu- ten, die alleine mit ihrem Mundschutz durch die Strassen eilen, und an Gruppen mit mehr als fünf Personen und einem deutlich geringeren Abstand als den vorgeschrie- benen 2 Metern vorbeikomme, wird mir bewusst: Die Blüten der Kirschbäume werden deutlich weniger lange halten als dieses COVID-19. ■ LIVIA BÜCHI MEDIZINISCHE PRAXISASSISTENTIN (MPA) IN AUSBILDUNG (3. LEHRJAHR), QUELLENPRAXIS, USTER Korrespondenzadresse: quellenpraxis@hin.ch Momentaufnahme in der Coronakrise Eindrücke einer MPA-Lehrtochter
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