01 / 2020 ERFAHRUNGSBER I CHT K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 53 Während zu Zeiten der Herren Kanner und Asperger Autismus zu 0,02% diagnostiziert wurde, gaben beispielsweise in den USA in einer epidemiologischen Studie Eltern autistische Symptome in einer Häufigkeit von 1/59 Kindern an (MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 2018:67;1–28). Genaue Zahlen kann jedoch niemand nennen. Obwohl gewisse Faktoren wie gestiegene Frühgeborenenüberlebensrate oder Migration einen Einfluss haben können, so erklären sie keinesfalls den starken Anstieg. Jedoch findet sich ein deutlich verbessertes Angebot in der Diagnostik. Die Ressourcen zur Betreuung betroffener Familien wiederum sind nicht im gleichen Ausmass gewachsen, sodass in der Schweiz zwar regional sehr gute Angebote bestehen wie etwa in Basel und Zürich, in anderen Gebieten jedoch lange Wartezeiten und fehlende Strukturen zu beklagen sind. Von einem flächendeckenden Angebot sind wir weit entfernt. Autismus – zunehmende Bedeutung in unseren Praxen Im Praxisalltag sind wir zunehmend mit diesem Thema konfrontiert, müssen Betroffene begleiten, Eltern beraten, Betreuungseinrichtungen von der Kita bis zur Schule aufklären, uns mit Therapeuten austauschen und dürfen auch so manche Konfrontation mit fixen Ansichten über Schullaufbahn & Berufseingliederung zum Wohle unserer Patienten nicht scheuen. So trafen sich am 14./15. November 2019 im Kloster Kappel am Albis 33 Teilnehmer zum 3. Seminar vor dem weiten Thema der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten. Was früher Seminar «Fit & Misfit im Kindesalter» war, heisst heute «Autismus-Spektrum-Störungen» und zeigt die aktuelle Entwicklung. Unter der erfahrenen Leitung von Dres. med. Rolf Temperli (BE), Alain Wimmersberger (VS) und Arnold Bächler (SG) wurde interdisziplinär Tag 1 dem frühkindlichen Autismus, Tag 2 dem Asperger-Syndrom gewidmet. Zum Auftakt zeigten Dres. med. Sarah Klingenfuss & Christine Fuchs vom Verein Ostschweizer Kinderärzte über die im Jahr 2019 im Einzugsbereich gestellte Anzahl der Diagnosen von ASS & Asperger getrenntgeschlechtlich mit und ohne IV-Anerkennung, was wir alle in der Praxis feststellen: ASS setzt einen Fokus. Knaben sind häufiger betroffen als Mädchen. Die Auseinandersetzung mit der IV ist ein wichtiger Teil des Ganzen und dementsprechend auch der Zeitpunkt der Diagnosestellung, denn die Diagnose des frühkindlichen Autismus zur Anerkennung der GGV 405 (ASS) oder 406 (Frühkindliche primäre Psychosen) sollte vor dem vollendeten 5. Lebensjahr gestellt worden sein. Dr. med. Evelyn Herbrecht gab als ärztliche Leiterin des FIAS-Therapiezentrums Basel einen umfassenden Überblick über ASS als Diagnose sowie den Stellenwert der frühen Erkennung und Behandlung. Die Diagnose ist als solche weiter im Wandel. «ASS» stammt als Bezeichnung aus dem DSM (Diagnose Manual der amerikanischen Psychiatriegesellschaft), welche im DSM 5 als übergreifende Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation & Interaktion beschrieben wird. Es weist eingeschränkte und repetitive Muster in Verhalten, Interessen und Aktivitäten auf. Sensorische Besonderheiten im Sinne von Über- oder Unterempfindlichkeiten oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Aspekten sind häufig. Im internationalen System ICD10 werden unter F84 die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen geführt, zu denen der frühkindliche und der atypische Autismus ebenso wie das Rett-Syndrom zählen. Das Asperger-Syndrom nimmt eine Sonderstellung als F 85.5 ein. Bezüglich der IV-Diagnosen spielt die erwähnte Altersgrenze eine grosse Rolle, jedoch ist unter Umständen eine rückwirkende Anerkennung möglich, sofern eine Verdachtsdiagnose zuvor dokumentiert wurde(!). Früherfassung durch die Praxispädiater Vom theoretischen zum praktischen Ansatz kam man so zum grossen Stellenwert der Entwicklungskontrollen. Augenmerk gilt vor allem den ersten Lebensjahren, wenn es um den Aufbau sozialer Interaktion und Sprachentwicklung geht, denn 1/3 der Kinder entwickelt keine oder nur eine eingeschränkte Sprache. Hinweise können sich sehr früh ergeben und sich als Auffälligkeiten im Schrei- und Schlafverhalten als Fütterungsstörungen oder Regulationsproblematik präsentieren. Besteht ein reduziertes «Schmusebedürfnis»? Wie reagiert das Kind bei Situationswechseln? Wie auf die Untersuchung als solche? Ein red flag sollte der fehlende trianguläre/referenzielle Blickkontakt sein. Entwickelt sich die Theory of Mind? Die frühe Diagnose ist bereits ab 2 Jahren möglich und unterstützt den Stellenwert der frühen Behandlung. Diese ist Schwerpunkt im FIAS Basel als einem der sechs Autismuszentren in der Schweiz. Im KJPD Zürich wird nach dem FIVTI-Konzept gearbeitet (frühe intensive verDR. MED. ANDREA BOKOR-MEINEL FMH KINDER- & JUGENDMEDIZIN, WEIACH Korrespondenzadresse: andrea.bokor@hin.ch Seminar Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) in der Praxispädiatrie
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