KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2020

FORTB I LDUNG 01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 30 Einleitung Mit einer Vortragsreihe für Ärzte und Medizinstudenten in Dornach bei Basel wurde die anthroposophische Medizin (AM) 1920 von Rudolf Steiner begründet. Seitdem wird sie von Ärzten und Wissenschaftlern fortlaufend weiter entwickelt, wovon nicht nur die stetig zunehmende Zahl von Lehrbüchern und wissenschaftlichen Publikationen zeugt. Heute ist sie weltweit verbreitet mit einem geografischen Schwerpunkt in Europa. AM wird im ambulanten Bereich und in Kliniken praktiziert und ist ihrem Wesen gemäss auf eine interprofessionelle Zusammenarbeit verschiedener medizinischer Berufsgruppen (Ärzte, Pflegende, Hebammen, Kunst-Therapeuten etc.) ausgerichtet. In immer mehr Ländern wird die AM auch an Universitäten gelehrt und erforscht, darunter Deutschland, Ungarn, die Niederlande und die Schweiz [1]. Anthroposophisches Menschenbild Von Anfang an wurde die AM als eine Erweiterung der naturwissenschaftlichen Medizin (konventionellen Schulmedizin) verstanden [1]. Während allerdings in der Entwicklung der Medizin unter dem Einfluss der erstarkenden Naturwissenschaften immer mehr die rein körperlichen bzw. körperlich erfassbaren Aspekte des Menschen in den Vordergrund rückten, ist das Menschenbild der AM gekennzeichnet durch eine über das körperliche Niveau hinaus gehende Anerkennung und Einbeziehung des Lebendigen, des Seelischen und des Geistig-Individuellen. Körper, Leben, Seele und Geist sind dabei eigenständige, aber ineinander wirkende Dimensionen des Menschen mit jeweils ganz eigenen, sog. emergenten Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten, die sich nicht aus den körperlichen Vorgängen heraus ergeben, die also explizit keine Epiphänomene des Körperlichen sind. Für eine ausführliche Darstellung dieser Zusammenhänge sei auf das Buch «Anthroposophie und Wissenschaft» von Peter Heusser verwiesen [2]. Das anthroposophische Menschenbild mit seiner viergliedrigen Organisation geht also über die naturwissenschaftlich erfassbaren Prozesse und Zusammenhänge des Menschen hinaus. Es liefert dadurch Gesichtspunkte, die sich für ein vertieftes Verständnis von Gesundheit und Krankheit als hilfreich erweisen und die in Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden können. Vor dem Hintergrund des differenzierten Welt- und Menschenbildes der AM erschliessen sich ausserdem die vielfältigen Bezüge des Menschen zu seinem sozialen Umfeld, zu den Prozessen und Substanzen der Natur und zum Kosmos, die der Entwicklung spezifischer, anthroposophischer Heilmittel und Therapiemethoden zugrunde liegen. Gleichzeitig bietet dieses erweiterte Menschenbild auch eine konzeptionelle Grundlage für die Integration von konventionellen und komplementären Therapien. Insofern kann man die AM auch als eine Brücke verstehen zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin. Anthroposophische Heilmittel und Therapiemethoden Ziel der AM ist es, durch Förderung der gesundheitsschaffenden Prozesse im Menschen und Unterstützung seiner Selbstheilungskräfte präventiv und therapeutisch zu wirken. Dabei kann es nötig und sinnvoll sein, auch schulmedizinische Therapien einzusetzen, wenn die Aktivierung der Selbstheilungskräfte nicht ausreicht oder wenn die Bedingungen zum Wirksamwerden der Selbstheilungskräfte ungünstig sind. Insofern wird in der AM neben den spezifisch anthroposophischen Heilmitteln und Therapiemethoden das gesamte Spektrum konventioneller Behandlungsmöglichkeiten sowie eine Vielzahl weiterer komplementärer Therapien genutzt. Daran zeigt sich der integrative Charakter der AM, der beispielsweise auch in der pädiatrischen Primärversorgung realisiert wird [3]. Die Entwicklung von Arzneimitteln war von Beginn an ein zentrales Element der AM. Die Herstellung aus mineralischen, metallischen, pflanzlichen und tierischen Ausgangssubstanzen erfolgt entsprechend pharmakologischer Standards, die in internationalen Pharmakopöen definiert sind. Ein wichtiger Teil der AM sind die meist von Pflegenden durchgeführten äusseren Anwendungen. Dazu zählen unter anderem Einreibungen, Wickel, Auflagen oder auch Bäder, die Heilungsprozesse gezielt anregen und regulieren können und die zudem auch als symptomatische Therapien eine grosse Bedeutung haben. Das Behandlungsspektrum umfasst ausserdem um anthroposophische Aspekte erweiterte Psychotherapie und künstlerische Therapien wie Maltherapie, Plastizieren, Musiktherapie oder therapeutische Sprachgestaltung, sowie mit der Heileurythmie eine spezifische Bewegungstherapie [1]. Gerade in der KinAnthroposophische Medizin – eine Brücke zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin DR. MED. BENEDIKT M. HUBER ZENTRUM FÜR INTEGRATIVE PÄDIATRIE, KLINIK FÜR PÄDIATRIE HFR FREIBURGKANTONSSPITAL, FREIBURG Korrespondenzadresse: benedikt.huber@h-fr.ch Die anthroposophische Medizin wurde vor 100 Jahren auf Grundlage der mitteleuropäischen Kultur- und Wissenschaftstradition als Erweiterung der Schulmedizin entwickelt. Im Zentrum steht ein Menschenbild, das ausgehend von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem auch die Dimensionen des Lebendigen, des Seelischen und des Geistig-Individuellen miteinbezieht. Damit liefert sie auch eine konzeptionelle Grundlage zur Integration von konventionellen und komplementären Therapiemethoden.

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