KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2020

FORTB I LDUNG 01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 16 Einleitung Wie wäre eine medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen, bei der neben den klassischen konventi- onellen Therapien selbstverständlich auch traditionelle und komplementäre Methoden zum Einsatz kommen, die je nach Situation und Setting unterschiedlich kom- biniert werden und die sowohl dem Stand des Wissens als auch den Bedürfnissen von Patienten Rechnung tra- gen? Eine pädiatrische Versorgung, bei der die technisch hochentwickelten Behandlungsverfahren der naturwis- senschaftlich geprägten Medizin ergänzt werden durch traditionelle Hausmittel und komplementärmedizinische Massnahmen, wobei letztere durch Unterstützung der Selbstheilungskräfte gezielt zur Erhaltung bzw. Wieder- herstellung der Gesundheit beitragen. Eine Kinder- und Jugendmedizin also, in der die Beziehung zwischen Arzt, Patient und Familie im Zentrum steht und die sich nicht verliert im technisch Machbaren, in Fallpauschalen und Managed Care auf der einen Seite bzw. in einer roman- tisch-irrationalen Alternativmedizin auf der anderen Sei- te. Diese Art der Versorgung ist keine Utopie, sondern bei vielen Pädiatern in der Schweiz eine im Alltag praktizierte Realität [1], die heute als integrative Pädiatrie (integrative Medizin in der Pädiatrie) bezeichnet wird [2]. Integrative Medizin Die Begriffe konventionelle, komplementäre und alter- native Medizin bzw. Therapie werden auch unter Fach- leuten nicht immer einheitlich verwendet, was die Ver- ständigung und sachbezogene Auseinandersetzung erschwert. Zur Klärung wird auf die Tabelle 1 verwie- sen. Der übergeordnete Begriff integrative Medizin be- schreibt allgemein eine patienten-zentrierte Versor- gung, bei der aufgrund von Evidenz und Erfahrung alle angemessenen präventiven und therapeutischen Me- thoden einschliesslich komplementärer Therapien ein- gesetzt werden, um Gesundheit und Heilung bestmög- lich zu fördern [3]. Die Ergänzung des konventionellen Behandlungsspektrums durch komplementäre Thera- pien führt zu einer Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten. Sowohl für den Arzt, der in seiner thera- peutischen Praxis dadurch viel differenzierter vorgehen kann, als auch für die Patienten ergibt sich so ein Mehr- wert gegenüber der reinen Schulmedizin. Je nach klini- scher Situation können in einem integrativen Ansatz die komplementären Therapien primär allein angewendet werden oder direkt in Kombination mit konventionel- len Therapien, um synergistische Effekte zu erzielen [2]. Was als medizinischer Mainstream gilt, mag v.a. auf ei- nen bestimmten Zeitpunkt bezogen klar sein. Mit Blick auf die einzelnen Therapien ist die Zuordnung zu kon- ventionell bzw. komplementär keineswegs immer ein- deutig, da sie insbesondere geografisch und über die Zeit variieren kann. Das soll an zwei Beispielen illus- triert werden: Lange vor Beginn der naturwissenschaft- lichen Medizin im 19. Jahrhundert waren pflanzliche Arzneimittel weit verbreitet und vielfach als Standard- therapie etabliert – heute zählt die Phytotherapie zur Komplementärmedizin; die Anwendung von Bakterien zur Symbioselenkung war bis vor einigen Jahren vor al- lem in komplementärmedizinischen Kreisen ein Thema – heute sind Probiotika bei verschiedenen Störungen als konventionelle Therapie im Mainstream angekommen. Welche konventionellen und komplementären Thera- pien im Einzelfall konkret zum Einsatz kommen, hängt von wissenschaftlicher Evidenz und ärztlicher Erfahrung ab und wird darüber hinaus von Patientenbedürfnissen sowie von kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren mitbestimmt. Die integrative Medizin kennzeichnet ein Methodenpluralismus in Prävention und Therapie, den man durchaus als Chance verstehen kann für die Erar- beitung einer voll orchestrierten Medizin und für eine Verbesserung der Patientenversorgung. Er ist nicht nur in unserer pluralistischen Gesellschaft, sondern vor al- lem in den verschiedenen, sich ergänzenden Sichtwei- sen und Zugangswegen begründet, die es braucht, um den Menschen als Ganzes zu erfassen [4,5]. Komplementärmedizin und integrative Pädiatrie in der Schweiz In der Schweiz haben komplementärmedizinische Ver- fahren eine lange Tradition und viele Kinder- und Ju- gendärzte praktizieren seit jeher im Sinne der integrati- ven Medizin. Es gibt eine sehr grosse Zahl verschiedener komplementärmedizinischer Richtungen und Metho- den, wobei unter Pädiatern die vier in der Schweiz an- erkannten Richtungen am meisten verbreitet sind: An- throposophische Medizin, Homöopathie, Phytotherapie und Traditionelle Chinesische Medizin/Akupunktur [1]. Für diese gibt es jeweils strukturierte Weiterbildungs- Was ist integrative Pädiatrie? DR. MED. BENEDIKT M. HUBER ZENTRUM FÜR INTEGRATIVE PÄDIATRIE, KLINIK FÜR PÄDIATRIE HFR FREIBURG- KANTONSSPITAL, FREIBURG Korrespondenzadresse: benedikt.huber@h-fr.ch In der integrativen Pädiatrie werden auf Grundlage von Evidenz und Erfahrung konventionelle und komplementäre Therapiemethoden in einem interprofessionellen Ansatz verwendet, um die individuelle Entwicklung und Gesundheit eines jeden Kindes in seinem Umfeld bestmöglich zu fördern (Schweizerische Interessengruppe für integrative Pädiatrie 2017).

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