KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2020

B e r u f s v e r b a n d K i n d e r - u n d J u g e n d ä r z t e i n d e r P r a x i s KINDERÄRZTE.SCHWEIZ NEWS Neues KIS Präsidium: 200 Tage im Amt Wintertagung vom 30. Januar 2020: Praxisforschung Interview mit Andreas Geiser: «Junge Kräfte für die Praxis begeistern» Themenheft Integrative Pädiatrie 01/2020 www.kinderaerzteschweiz.ch info@kinderaerzteschweiz.ch

In der Druckausgabe befindet sich auf dieser Seite ein Hinweis für medizinische Fachpersonen.

01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 3 INHALT / IMPRESSUM ■ HABEN SIE ANREGUNGEN, KRITIK ODER LOB? Dann schicken Sie uns eine E-Mail an: info@kinderaerzteschweiz.ch Wir freuen uns. IMPRESSUM REDAKTIONSTEAM: Dr. med. Matthias Furter, Winterthur; Dr. med. Stefanie Gissler Wyss, Neuendorf; Dr. med. Raffael Guggenheim, Zürich (Leitung); Dr. med. Irmela Heinrichs, Uster; Dr. med. Cyril Lüdin, Muttenz; Dr. med. Nadia Sauter Oes, Winterthur; Dr. med. Martin Schmidt, Rheinfelden; Dr. med. Jürg C. Streuli, Uznach; Dr. med. Kerstin Walter, Bern; Dr. Daniel Brandl, PhD, Geschäftsführer HERAUSGEBERIN: Verlag Praxispädiatrie GmbH, Badenerstrasse 21, 8004 Zürich ABO: 4 Ausgaben/Jahr: Fr. 48.– inkl. Porto (für Mitglieder inklusive) Spezialpreis für Mütter- und Väterberatungsstellen sowie Nonprofit-Organisationen im Bereich Kinder- und Jugendgesundheit: Fr. 32.– inkl. Porto BILDER / ILLUSTRATIONEN: Shutterstock, Kinderärzte Schweiz, Daniel Brandl, Kinder- und Jugendpraxis Schlieren, Benedikt Huber, Martin Schmidt, SGP, Beatrix Falch, Richard Bolli, Hanna Seewald, Heiner Frei, Bea Latal, Voltafilm: Simon Weber und Luzius Wespe, Kompetenzzentrum Leaving Care, Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, Christian Knoll, Forum für Praxispädiatrie, Sepp Holtz, Vogt-Schild Druck, Heidi Zinggeler Fuhrer, Irmela Heinrichs, hogrefe, Thienemann Verlag. KORRESPONDENZ: Kinderärzte Schweiz Badenerstrasse 21, 8004 Zürich Telefon 044 520 27 17 info@kinderaerzteschweiz.ch, www.kinderaerzteschweiz.ch INSERATE: Dr. med. Cyril Lüdin, cyril@luedin.eu GRAFIK, SATZ UND DRUCK: Vogt-Schild Druck AG, CH-4552 Derendingen Auflage: 1400 Expl. Nächste Ausgabe: 02/2020 Redaktionsschluss: 27. April 2020 neutral Drucksache No. 01-20-307169 – www.myclimate.org ©myclimate – TheClimate Protection Partnership PERFORMANCE EDI TOR IAL 5 Plädoyer für die integrative Pädiatrie INTERN 6 Das neue Präsidium: 200 Tage im Führerstand der KIS Lokomotive VERBANDSZ I ELE 10 KIS Wintertagung vom 30. Januar 2020: Forschung in der Praxispädiatrie: Wo stehen wir heute? 38 Andreas Geiser: «Junge Kräfte für die Praxis begeistern» P INNWAND 12 Lesenswertes aus dem Vorstand, Arbeitsgruppen und dem Rest der Welt BERUFSPOL I T I K 15 mfe FORTB I LDUNG 16 Was ist integrative Pädiatrie? 18 Komplementäre Therapieansätze bei akuter Tonsillopharyngitis 24 Phytotherapie – eine unterschätzte Therapieoption: Eine Auswahl an wirksamen Arzneipflanzen 27 Bedeutung der Traditionell Chinesischen Medizin (TCM) in der Pädiatrie 30 Anthroposophische Medizin – eine Brücke zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin 32 Homöopathie in der Pädiatrie VERNETZUNG 40 Geschwisterkinder: Geschwister von Kindern mit einer Behinderung oder Krankheit 42 Das Kompetenzzentrum Leaving Care – die Unterstützung für Care Leaver*innen muss verbessert werden 44 Schweizer Vorlesetag am Mittwoch, 27. Mai 2020: Wie Kinderärzte mitmachen können LESERBR I EF 45 Audiometrie: Camera silens – do it yourself! REDAKT IONELLE SE I TEN 47 Christoph Klimm: Der ehemalige «Mister Cash» der Kinderärzte verabschiedet sich 48 Praxistour: Praxis «Kind im Zentrum» in Zürich Wollishofen 50 Verabschiedung und Willkommen bei Vogt-Schild Druck KURSE /WORKSHOPS / FORTB I LDUNGEN 51 Kurse KIS 52 Veranstaltungskalender 52 Die gute Fortbildung ERFAHRUNGSBER I CHTE 53 Seminar Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) in der Praxispädiatrie 56 Fortbildung «Psychische, psycho-somatische und psychiatrische Probleme in der pädiatrischen Praxis (PPPP)» zum Thema somatoforme Störungen 57 Nichtsuizidale Selbstverletzung, Suizidalität, Suizidprävention bei Kindern und Jugendlichen 59 Sportmedizin in der pädiatrischen Praxis FÜR S I E GELESEN 60 Salutogenese kennen und verstehen DAS GUTE K INDERBUCH FÜR DI E PRAX I S 62 Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika

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01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 5 EDI TOR IAL Herzlich willkommen! Der KIS-Zug hat neue Lokführer und dies seit nunmehr über 200 Tagen. Wohin führt die Reise? Was machen unsere Lokführer? In dieser Ausgabe der KIS News stellen sich Marc Sidler undHelena Gerritsma Schirlovor und zeigen uns in einem Interview, wo die neuen Haltestellen für den KIS-Zug sind. Dass PraxisforschungundNachwuchsförderungdazu gehören, zeigen die Berichte über die Wintertagung und das Interview mit Andreas Geiser. Über den leidigen, aber auch kreativen Umgang mit Versicherern und santésuisse berichtet Christian Knoll in einem Leserbrief. Sicher bleiben aber für uns dieKinder im Zentrum , was wir auf der Praxistour mit Sepp Holtz erfahren. Herzlich willkommen! Die integrative Pädiatrieist endlich auch bei uns angekommen! Was früher etwas herablassend als «Alternativmedizin» oder «unkonventionelle Therapiemethoden» bezeichnet wurde, wird heute nicht nur von KIS, sondern auch von der SGP als wichtige Ergänzung zur klassischen Schulmedizin wahrgenommen. Tatsächlich sind komplementäre Therapien in der pädiatrischen Praxis weit verbreitet und viele Patienten und Eltern schätzen das erweiterte Therapieangebot der integrativen Medizin. Daher freuen wir uns, dass erfahrene Autorinnen und Autoren aufzeigen, wie und wann man komplementäre Therapien auch im Praxisalltag einsetzen kann – ja vielleicht sogar muss! In einer kurzen Übersicht erklärt Benedikt Huber, was wir überhaupt unter integrativer Pädiatrie verstehen, um dies in einem «State of the Art»-Artikel zusammen mit weiteren Autoren an einem Fallbeispiel eingehend zu erläutern. Er zeigt auch, wieanthroposophische Medizinin den Praxis- und Klinikalltag integriert werden kann. Beatrix Falch und Lucien Simmen erklären uns den Ansatz der Phytotherapie ; Hanna Seewald und Susanna Kemper führen uns in die Welt derAkupunktur für Kinder ein; und Sigrid Kruse und Heiner Frei zeigen uns prägnant, was wir mitHomöopathiebewirken können. Wir hoffen, damit den Horizont unserer Leser zu erweitern und auch das Interesse an der einen oder anderen Therapieform zu wecken oder zu stärken. Sicher aber geht es darum, ein Verständnis für andere Heilmethoden in der Medizin aufzubauen und auch eine Beurteilung ihrer Wirksamkeit jenseits der Polemiken zu ermöglichen. Dazwischen findet Ihr noch viel Lesenswertes aus Kurswesen, mfe und Politik, Vernetzung sowie Berichte zum Schweizer Vorlesetag und zur Salutogenese. Erneut eine reichhaltige Ausgabe! Im E-Paper dieses Hefts findet ihr weitere Artikel. Zum Schluss gibt es auch zwei Goodbyes! Wir bedanken uns mit einer kleinen Kolumne bei Christoph Klimm, dem ehemaligen Finanzminister vom Forum Praxispädiatrie und bei Martin Brand, dem langjährigen Layouter unserer Zeitschrift, welche in die Pension gehen. Wir wünschen eine angeregte und unterhaltsame Lektüre. Für die Redaktionskommission Raffael Guggenheim, Co-Editor Benedikt Huber, Co-Editor Matthias Furter, Co-Editor Plädoyer für die integrative Pädiatrie DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM CO-EDITOR, LEITER REDAKTIONSKOMMISSION, FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch DR. MED. BENEDIKT M. HUBER CO-EDITOR, FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, ZENTRUM FÜR INTEGRATIVE PÄDIATRIE, KLINIK FÜR PÄDIATRIE HFR FREIBURG – KANTONSSPITAL FREIBURG Korrespondenzadresse: benedikt.huber@h-fr.ch DR. MED. MATTHIAS FURTER CO-EDITOR, FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, WINTERTHUR Korrespondenzadresse: matthias.furter@hin.ch Die Themen der folgenden Hefte sind: News 02/2020: Ultraschall in der pädiatrischen Praxis News 03/2020: Allergologie: Fokus Desensibilisierungen News 04/2020: Jahrestagung News 01/2021: Ethik

INTERN 01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 6 KIS: Marc und Helena – KIS NEWS gratuliert euch zu euren ersten 200 Tagen im neuen Amt! Ihr habt mit Elan und Freude an der Jahresversammlung das neue Amt entgegengenommen. Wie geht es euch als Präsident und Vizepräsidentin von KIS? Marc Sidler (MS): Sind das wirklich schon 200 Tage? Die vielen guten Wünsche von verschiedenen Seiten, vor allem aber von Kolleginnen und Kollegen, unmittelbar nach der Jahresversammlung waren sehr schön. Erst so langsam fange ich aber an zu realisieren, was es heisst, dieses Amt übernommen zu haben. Auch sechs Monate nach «Amtsantritt» ist noch vieles neu. Das Tagesgeschäft hat es mir noch nicht erlaubt, mich eingehender mit mir am Herzen liegenden Themen (wie zum Beispiel Visionen) zu beschäftigen. Mit Helena habe ich eine tolle Vizepräsidentin zur Seite und wurde von Geschäftsstelle und Vorstand vom ersten Tag an tatkräftig unterstützt. Helena Gerritsma Schirlo (HG): Vielen Dank! Nach 200 Tagen habe ich das Gefühl, einen Eindruck von der «Innenseite» von KIS zu haben. Das «Cover» kenne ich ja seit Jahren. Zunehmend fühle ich mich wohler in meinem Amt und schätze die gute Zusammenarbeit mit Marc, der Geschäftsstelle und den Zusammenhalt und Austausch im Vorstand und den Arbeitsgruppen sehr. Das neue Präsidium: 200 Tage im Führerstand der KIS Lokomotive INTERVIEWER: DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM VORSTANDSMITGLIED KINDERÄRZTE SCHWEIZ, LEITER REDAKTIONSKOMMISSION, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch Die an der Mitgliederversammlung vom 3. September 2019 neu gewählten neuen Lokführer des KIS Zuges, Präsident Marc Sidler und Vizepräsidentin Helena Gerritsma Schirlo, stehen im Interview mit den «KIS NEWS» Rede und Antwort. KIS: Ihr seid ja ohne Vorstandserfahrung direkt ins Präsidium gewählt worden. War dies ein Vorteil oder Nachteil für eure Arbeit? MS: Ich denke beides. Von Vorteil ist, dass ich viele Dinge unvoreingenommen, ja fast «naiv» angehen kann – wie ein junges Kind eben! Andererseits konnte ich schwierig abschätzen, wie viel Zeit das neue Amt in Anspruch nehmen wird. Man muss lernen, wer wie tickt und wer zu welchen Dingen etwas zu sagen hat. Es gilt, ein neues Beziehungsnetz aufzubauen. All das war neu für mich und braucht Zeit. HG: In der Tat fühlte es sich wie ein Test im Weitsprung an, gleich ins Vizepräsidium zu «jumpen». Positiv daran finde ich die Möglichkeit, die anstehenden Themen unvoreingenommen und unbelastet anzugehen. Das manchmal fehlende Vorwissen wird durch den Verbleib des früheren Vizepräsidenten Jan Cahlik im Vorstand, die anderen Vorstandsmitglieder und die gut funktionierende Geschäftsstelle meines Erachtens gut ausgeglichen. Dafür bin ich überaus dankbar. KIS: In den letzten Jahren hat sich KIS ein neues Programm gegeben – dargestellt mit dem KIS Zug (siehe Kasten). Wo seht ihr euer Engagement als «Lokomotivführer» oder «Zugbegleiter»? MS: Die wichtigen Ressorts Kurswesen, KIS-News und Website sind etabliert und gut aufgestellt, da kann ich als Lokführer auf die Zugbegleiter zählen. Ich bin sehr froh, dass Helena das Kurswesen von Jan Cahlik übernommen hat. Das neu gebildete Ressort «Nachwuchsförderung» ist mir ein grosses Anliegen und ich möchte es weiter stärken. Persönlich sehe ich mich als «Lokomotivführer» in Bezug auf die interprofessionelle und interdisziplinäre Vernetzung, im Austausch mit Verbänden wie SPG und mfe, damit die Anliegen der praktizierenden Kinder- und Jugendärzte in der Politik gehört werden und KIS als wichtiger Player der Praxispädiatrie wahrgenommen wird. HG: In der KIS Lokomotive möchte ich die «Heizerin» sein. Es gibt so viele Ideen, die wir umsetzen dürfen; was mich betrifft vor allem im Kurswesen, dafür möchten wir zusammen mit der Geschäftsstelle eine Plattform bieten, damit der Zug weiterrollt, mal etwas gemächlicher, meist jedoch recht zügig. Die Qualität und Auswahl der Kurse, die Stärkung der Interprofessionalität und die Nachwuchsförderung sind weitere wichtige Eckpfeiler. KIS: Das Vorgänger-Duo Heidi Zinggeler Fuhrer und Jan Cahlik hat sich stark gemacht für ein po-

01 / 2020 INTERN K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 7 litisch engagiertes KIS. Wo seht ihr die wichtigen politischen Punkte für KIS in der nahen Zukunft? MS: Es müssen Voraussetzungen geschaffen werden, damit die Kinder- und Jugendmedizin weiterhin ein attraktiver Beruf bleibt. Nur so können wir sicherstellen, dass wir auch in Zukunft genügend Nachwuchs haben und in der ganzen Schweiz eine qualitativ hochstehende kinderärztliche Versorgung anbieten können. Absolut prioritär ist die Etablierung der Praxisforschung auch in der Kinder- und Jugendmedizin – wie dies in der Hausarztmedizin bereits der Fall ist –, damit wir unsere Arbeit auch mit Zahlen belegen können. Nur so wird es uns gelingen, die Politiker und Entscheidungsträger von der Notwendigkeit der Fortführung und Finanzierung unserer hochstehenden Kinder- und Jugendmedizin zu überzeugen. Dass Kinder nicht einfach kleine Erwachsene sind und ihre Entwicklung schon gar nicht – das muss auch in Bundesbern klar werden. Damit dies gelingt, sind wir auf Zusammenarbeit mit der SGP als Fachgesellschaft und mfe als Grundversorgerverband angewiesen. HG: Das politische Engagement ist aus meiner Sicht ein MUSS. In den kommunalen und nationalen Bestrebungen für ein Konzept der «frühen Förderung» müssen wir uns positionieren, drohen wir Kinderärzte und Kinderärztinnen doch immer wieder in den Konzepten der Interprofessionalität vergessen zu gehen. Den Tarif zu stärken und somit unsere wichtige und qualitativ hochstehende Arbeit in der Grundversorgung auch vor santésuisse zu rechtfertigen, ist ein weiteres zentrales Anliegen. KIS: Die Praxispädiatrie in der Schweiz hat ja viele gerade nicht-medizinische Probleme: Versorgung der Randregionen, Nachwuchsförderung, zunehmender administrativer Aufwand und mühsame Diskussionen mit santésuisse/tarifsuisse, um nur einige zu nennen. Was kann KIS tun, um die Pädiatrie auch in Zukunft für junge und alte Pädiater attraktiv zu gestalten? MS: Viel Gutes und Wichtiges wurde in den vergangenen Jahren gemacht. Dies gilt es weiterzuführen und auszubauen: Für die Mitglieder und die Nachwuchsförderung ist und bleibt das Kurswesen mit den praxisnahen Fortbildungen unser Aushängeschild. Bei der Nachwuchsförderung braucht es aber auch vermehrt engagierte Kolleginnen und Kollegen, welche das «feu sacré» der Praxispädiatrie an die junge Generation weitertragen; sei es im persönlichen Austausch, als Lehrpraktiker und in einem der vielen Kurse von KIS. Auf der politischen Seite müssen wir unsere Standpunkte bei den Entscheidungsträgern gemeinsam mit den anderen uns nahestehenden Verbänden immer wieder einbringen. Hier funktioniert es leider nur mit «immer wieder vorstellig werden». Was den Tarif und HG: KIS lebt für und durch seine Mitglieder. Viele zu lösende Aufgaben wie das Erreichen einer flächendeckenden pädiatrischen Grundversorgung oder leidige Verfahren mit der santésuisse können wir als Einzelpersonen nicht lösen. Hier können wir uns zusammenschliessen, uns als Verband positionieren und uns für die Belange der Praxispädiatrie einsetzen. In der Praxis hat man eine grosse Entscheidungsfreiheit in der Gestaltung und Ausübung der Tätigkeit und der Wahl von Schwerpunkten – dies macht die Arbeit so spannend! Diese wertvolle Vielfalt wollen wir beibehalten unter Wahrung der Qualitätsanforderungen, dafür setzen sich viele KIS-ler auf allen Ebenen ein. Damit die Praxispädiatrie Bestand hat, braucht es aber auch mehr in der Praxis tätige Kolleginnen und Kollegen, damit der Workload verteilt werden kann. Setzen wir uns dafür ein, dass jeder Medizinstudierende einen Praxisassistenzplatz bekommen kann, gerade auch bei dem Mehr an Studierenden, die jetzt auf uns zukommen! KIS: Wie sehen eure Ideen und Visionen für die Zukunft der Praxispädiatrie, von KIS und auch der Zusammenarbeit von KIS mit SGP und mfe, aus? seine Diskussionen betrifft, haben wir das Glück mit Heidi Zinggeler Fuhrer und Rolf Temperli zwei Pädiater mit viel Erfahrung in der Tarifkommission von mfe zu haben, welche unsere Interessen vertreten und uns auch entsprechend weiterbilden. Es gilt, diese guten Beziehungen und die kurzen Kommunikationswege weiter zu pflegen.

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01 / 2020 INTERN K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 9 MS: Neben den erwähnten etablierten «Aushängeschildern» von KIS sehe ich als meine Vision das verstärkte Engagement in der Nachwuchsförderung, wie Helena es oben schön formuliert hat. Weiter liegt mir die Praxisforschung persönlich sehr am Herzen, da ich überzeugt bin, dass wir in Zukunft unser Tun belegen müssen. Die Interprofessionalität soll weiter gestärkt werden, dabei ist mir die Weiterbildung und Stärkung der pädiatrischen MPA ein wichtiges Anliegen. Bereits jetzt findet erfreulicherweise ein intensiver Austausch mit SGP und mfe statt. Es ist mir wichtig, bei der SGP die Anliegen der Praxispädiater einbringen zu können, gerade in den für uns so wichtigen Ressorts Weiterbildungskommission und der nun zu bildenden Fortbildungskommission. mfe gilt als der wichtigste Berufsverband der Grundversorger in der Schweiz, hier müssen wir unsere etablierten Beziehungen stärken, damit wir vom politischen Know-how und dem Fachwissen, wie zum Beispiel Tarifwesen, weiter profitieren können. HG: Die Zusammenarbeit mit der SGP ist zentral; das Einbringen unserer Anliegen aus der Praxispädiatrie in den dortigen Kommissionen und AGs ist nötig und sinnvoll. Auch mit der mfe besteht ein äusserst wertvoller Austausch. Die Zusammenarbeit ist wertschätzend und fruchtbar; es ist wichtig, Synergien zu erkennen und zu nutzen. Als Vision sehe ich eine qualitativ hochstehende Praxispädiatrie, die eine gute Work-Life-Balance zulässt durch vermehrt gelebte Interprofessionalität (auch tarifarisch) sowie kollegialen Austausch über Generationengrenzen hinaus. KIS: …und zum Schluss: wie geht es eigentlich euren Familien und euren Praxen mit dem neuen Job? MS: Mit der Übernahme des Präsidiums habe ich geplant, die Arbeitslast in der Praxis zu reduzieren, was bisher – auch saisonal bedingt – noch nicht wirklich gelungen ist. Meine Familie hat glücklicherweise grosses Verständnis für meine neue Aufgabe, musste aber in den letzten Monaten so einige Male auf mich verzichten. Umso mehr freue ich mich auf die gemeinsamen Skiferien im Berner Oberland! HG: In der Praxis ist durch die personelle Aufstockung einer Pädiaterin und einer MPA meine Minderarbeit kompensiert. Es ist toll zu spüren, dass man den Rückhalt im Team hat und meine Anwesenheit nicht immer permanent vonnöten ist. In der Familie höre ich vermehrt, ich sei etwas viel am Laptop abends… das werde ich noch optimieren! KIS: Wir danken euch für dieses Interview und wünschen euch viel Erfolg bei der Umsetzung eurer Ideen und Visionen. Was hat euch zu eurem Beruf bewegt; wo liegen die Faszination und die Probleme eures Jobs und wo steht ihr heute als Pädiater und als Menschen? MS: Die Art und Weise wie Kinder denken, handeln; wie sie unbekümmert und direkt die Dinge im Leben anpacken, hat mich stets fasziniert. Dies ist es, was mich schliesslich zur Pädiatrie gebracht hat. Kinder von Geburt an bis ins junge Erwachsenenalter gemeinsam mit ihrer Familie auf deren Lebensweg begleiten zu können und erleben zu dürfen, wie sich ein junger Erdenbürger entwickelt, ist sehr bereichernd und immer wieder berührend. Dabei täglich zu erfahren, wie variabel und breit denn die «Norm» ist und was Kinder und Jugendliche für Entwicklungen machen können, ist ein grosses Privileg als Praxispädiater. Dies ist ein Aspekt der Pädiatrie, den ich so während meiner Aus- und Weiterbildung nicht wahrgenommen habe. Wie so oft im Leben war es ein Zufall, dass ich – nach einer Weiterbildung in pädiatrischer Gastroenterologie – in der Praxispädiatrie gelandet bin, ein Schritt, den ich heute nach 12 Jahren in eigenständiger Praxistätigkeit nicht bereue. Dabei in einem kleinen Team arbeiten und selbstständig entscheiden zu können, schätze ich sehr. Es ist zu hoffen, dass dies trotz zunehmenden Vorgaben und Vorschriften vonseiten der Behörden und Politik auch in Zukunft möglich sein wird. Dass ich neben der Praxis gleichzeitig in einem Teilzeitpensum (20%) an einem Zentrumsspital (UKBB) die Subspezialisierung weiter praktizieren kann, finde ich enorm wertvoll. Dabei erlebe ich immer wieder, wie Praxis und Spital viel gegenseitig voneinander profitieren können. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass das Verständnis und der Respekt zwischen Praxis und Klinik vermehrt gelebt wird. HG: Sich auch nach 25 Jahren noch jeden Tag auf die Arbeit zu freuen, das habe ich mir immer gewünscht. Und das ist weitgehend gelungen! Auch an arbeitsintensiven Tagen zaubern die Kinder mit ihrer Offenheit und lustigen Sprüchen immer wieder ein Lächeln auf mein Gesicht. Die Diskussionen und das Verhandeln mit den Jugendlichen auf Augenhöhe finde ich bereichernd und berührend. Die Betreuung und das Coaching der Eltern mit dem Ziel, ihre Kinder optimal in der individuellen Entwicklung zu unterstützen, ist eine spannende Herausforderung. Sich im Team auf den anderen verlassen können, gesehen werden und voneinander lernen ist nicht selbstverständlich, aber sehr bereichernd. Mein Berufsberater meinte einst: «Medizin isch nüt für Sie. Wenn sie en Familie wänd, macht das kei Sinn.» Manchmal ist der Spagat zwischen Familie und Arbeit in der Tat herausfordernd – aber ich fand es immer ein Privileg, beides kombinieren zu dürfen. Sowohl von unseren Kindern als auch von Patienten und deren Familien habe ich viel gelernt und geniesse es, dass meine Meinung wertgeschätzt wird, ich begleiten darf und präventiv wirksam sein kann, nebst den kurativen medizinischen Tätigkeiten. Ich habe den Schritt in die Praxis nie bereut. Nachwuchsförderung Regionale Vernetzung Praxispädiatrische Fortbildung Interprofessionalität Jahrestagung News Homepage Kurswesen

VERBANDSZ I ELE 01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 10 Eine erfreuliche Zahl von interessierten KIS Mitgliedern und fünf Experten, welche seit Jahren in der pädiatrischen Forschung tätig sind, trafen sich am 30. Januar 2020 zur traditionellen Wintertagung in Zürich. Das diesjährige Thema war dieForschung in der Praxispädiatrie – eine äusserst wichtige und mehr denn je aktuelle Aufgabe, welche schon lange auf dem KIS Radar aufblinkt (spätestens seit Noldi Bächlers inspirierendem Appell anlässlich der Jubiläumstagung 2015). Die Zieleder Tagung waren, von Experten herauszufinden, welche Forschungsgefässeund -aktivitätenes in der Schweiz bereits gibt ; was es bei der praxispädiatrischen Forschung zu beachten gilt ; welcheWünsche und Vorstellungen Kinderärztinnen in der Praxis zum Thema haben ; was KIS dazu beitragen kann , sowie dasSkizzieren des weiteren Wegesdieses grossen und langfristigen Projektes. Damit die Praxispädiatrie auch in Zukunft ihren Platz in der Gesundheits- und Grundversorgung in diesem Land rechtfertigen kann, müssen wir unsere Arbeit mit Zahlen und Daten belegenkönnen. Darüber waren sich alle Teilnehmer der diesjährigen Wintertagung einig. In einem ersten Teilwurde in drei Expertenreferaten über verschiedene Projekte, sowie darüber, wie Forschung in der Praxispädiatrie am besten gelingt, informiert. FrauProf. Dr. med. Claudia KühniderUniversität Bern teilte ihre Erfahrungen und Ideen in der Versorgungsforschung mit uns. Daten von Kindern zu erhalten, ist aus zwei Gründen wichtig: einerseits, weil Expositionen in der Kindheit das ganze restliche Lebenbeeinflussen können, und andererseits, weil viele chronische Krankheiten in derKindheit beginnen . Eine tasmanische Langzeitstudie über die Lungenfunktion (durchgeführt mit über 8000 Probanden vom ersten bis zum sechsten Lebensjahrzehnt) hat zum Beispiel aufgezeigt, dass 40% der Fälle von chronisch obstruktiver Lungenerkrankung COPD bereits im Kindesalter durch Asthma, atopische Erkrankungen und untere Atemwegsinfekte prognostiziert werden könnten. Impfungen, Behandlungen und Expositionen wirken sich auf den weiteren Verlauf unseres Lebens aus; deshalb braucht esmehr standardisierte Langzeitstudien , welche die Gesundheit eines Menschen über dessen Lebenszeit untersuchen. KIS Wintertagung vom 30. Januar 2020: Forschung in der Praxispädiatrie: Wo stehen wir heute? DR. MED. MARC SIDLER PRÄSIDENT KINDERÄRZTE SCHWEIZ, BINNINGEN Korrespondenzadresse: marc.sidler@hin.ch DR. DANIEL F. BRANDL PHD GESCHÄFTSFÜHRER KINDERÄRZTE SCHWEIZ, ZÜRICH Korrespondenzadresse: daniel.brandl@ kinderaerzteschweiz.ch Wir dokumentieren in unseren Praxen jeden Tag massenweise Daten. Paradoxerweise werden Forschungsdaten häufig von Erwachsenen extrapoliert und es gibt viele Behandlungen, welche nicht evidenzbasiert sind. Daten in der Praxis, welche dann für Fragestellungen verwendet werden, können durchUmfragenan Ärzte, beobachtende Studien (vorhandener Daten und/oder mit zusätzlicher Datensammlung) und Interventionsstudien (randomisierte klinische Studien) erhoben werden. Frau Prof. Kühni träumt von einem «learning health system» in der Pädiatrie, in welchem die alltäglich durch uns produzierten Daten in der Praxis zur Forschung und zur ständigen Verbesserung der Versorgung genutzt werden können. Bei erfolgreichen Forschungsprojekten ist es nebst demwissenschaftlichen Support und klarenRegelnzur Zusammenarbeit wichtig, dass dievorhandenen Ressourcenoptimalgenütztwerden; dass das Vorgehen standardisiert ist; und dass eine kritische Masse anzentraler Expertiseund Ressourcenexistiert (IT, Administration, Kommunikation). DieHerren PD Dres. med. Michael von Rheinund Johannes Trücksowie Frau Dr. med. Michelle Seiler vom Universitäts-Kinderspital Zürichstellten in Form von realisierten Arbeiten den Status Quo der pädiatrischen Versorgungsforschung in ihrer Klinik sowie derer Perspektive vor. Wie ihre Vorrednerin wies dieses Team darauf hin, dass die in Praxis und Spital erfassten gesundheitsrelevanten Datenin der Pädiatrie kaum genutztwerden. Es gibt bisher keine, bzw. kaum koordinierte Studienan der Schnittstelle Praxis/Klinik , obwohl grosse gemeinsame inhaltliche Interessen bestehen und es auch Seitens des BAG ein Bedürfnis ist, die «Versorgungsforschung in der Schweiz» zu stärken. Die Vorteile und Möglichkeiteneiner Forschungskooperationzwischen Praktikern und Klinikern umfassen ■ breite und «real-life» Daten ■ das gemeinsame Entwickeln von Forschungsfragen und Design ■ auf praxisrelevante Fragestellungen anwendbare Ergebnisse ■ die Nutzung von, sowie das Fokussieren auf Übergänge und Schnittstellen ■ die Möglichkeit des Feedbacks bezüglich eigener Daten im Vergleich zu anderen Praxen oder dem Spital. Das Universitäts-Kinderspital Zürich bietet konkret an: ■ Entlastung der Praxen von Zusatzaufwand ■ Unterstützung bei Ethik und Finanzierungsanträgen ■ Entwicklung von Studiendesigns ■ indirekt den Zugang zu Infrastruktur, Study Nurses und Studierenden.

01 / 2020 VERBANDSZ I ELE K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 11 In der «edukativen Forschung» könnten Forschen und Teaching mit direktem Feedback aus den Studien «am Puls der Zeit» verbunden werden. Es besteht Seitens des Kinderspitals Zürich eingrosses Interesse an wissenschaftlicher Kooperation mit den Praxen . Mögliche Themenfelder sind: a) Versorgungsstruktur beschreiben b) Fragen der Praxen beantworten c) Praxen als Erhebungsfeld für gemeinsame Fragen nutzen. Durch eine enge Zusammenarbeit von Praxis und Spital und mit einemstrategischen Cluster , zum Beispiel einem Pool von Studienpraxen , könnte eine solche Kooperation realisiert werden. Den Abschluss des ersten Teils machteProf. Dr. FrankWieber , stellvertretender Leiter Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (zhaw) in Winterthur. Er stellte zunächst dieForschungsschwerpunktedes Departements Gesundheit an der zhaw vor. Bei Themen derKinder- und Jugendgesundheitbeinhalten diese: COPCA (Coping with and Caring for Infants with special needs); den digitalen Elternratgeber DIGE; sowie die Netzwerkarbeit der freipraktizierenden Hebammen (Zugang von Familien mit Neugeborenen zu Angeboten der frühen Förderung). Im Bereich der Interdisziplinaritätwerden im Projekt «BB-Ges» die Berufskarrieren und Berufsverweildauer in den Gesundheitsberufen erforscht; im Projekt «Quantified Self» die Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin. Als ein erfolgreiches Beispiel der Forschungszusammenarbeit zwischen Hochschule und Praxis wurde das BAG Projekt «Screening-Instrument für psychische Störungen in der somatischen Versorgungspraxis» präsentiert. Dieses wird in den Eltern-Broschüren «Tipps zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern» bzw. «…Jugendlichen», an welchen zurzeit KIS Mitglieder aktiv mitarbeiten, dieses Jahr noch publiziert. Nach Ansicht von Prof. Wieber gibt es eineVielzahl von Fragestellungen aus der Praxis , welche für Praxispädiater sowohl interessant als auch relevant sind, einerseits im Bereich Versorgungsforschungwie auch in Bezug auf Diagnosenund Interventionen . Besonders geeignete Themen sind: ■ chronische Erkrankungen (psychische Gesundheit, seltene Erkrankungen etc.) ■ Vorsorge und Prävention (z.B. Verhaltensänderung) ■ Arzt-Patient-Beziehung ■ Digitalisierung. Praxispädiaterinnen und die Bevölkerung können direkt und indirekt von Forschung profitieren durchWirksamkeitsstudien (Nachweis wirksamer Therapien und Angebote); Versorgungsforschung (bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Primärversorgung); Gesundheitsförderungund Prävention (Entwicklung von evidenzbasierten Angeboten und niederschwellige Sensibilisierung für Gesundheitsthemen). Die Schlüssel zu erfolgreichen Forschungspartnerschaftenin der Grundversorgung sind die kreativeNutzung von bestehenden Prozessenund Ressourcen ; die gemeinsameThemenfindung ; die Sicherstellung von Ressourcensowie die Praxis- und Public Health-relevante AuswertungundKommunikationder Ergebnisse. Praxispädiatrische Forschung kann durch Drittmittel (Stiftungen, Schweizerischer Nationalfonds, BAG etc.), Abschlussarbeitenund/oder durch Eigenmittel vielfältigfinanziertwerden. Forschung kann in situativen , opportunistischen Partnerschaftenund/oder in einem längerfristigen Forschungsnetzwerkzwischen einem Steuergremium, Forschungspraxen, Forschungspartnern und konstanten oder wechselnden Finanzierungspartnern gelingen. Imzweiten Teildes Nachmittags tauschten sich die Teilnehmerinnen in zwei Gruppen mit den Referenten aus über: a) Relevante Fragestellungen b) Beste Vorgehensweisen zu deren Umsetzung c) Wünsche an KIS Wenig erstaunlich zeigten die Diskussionen, dass die Ideen für zu untersuchendeThemen sehr breit gestreutund vielfältigsein können. Einerseits wurden ganz konkrete Fragen gestellt, z.B. die Auswirkung der neuen Empfehlungen zur Behandlung der Streptokokken-Angina zu untersuchen; andererseits wurden auch Fragen aus dem Bereich der Gesprächs- und Patientenführung in die Runde geworfen, zum Beispiel: «Können wir durch eine gezielte Beratung der Eltern zum Fiebermanagement Besuche beim Kinderarzt und auf der Notfallstation der Kinderkliniken vermeiden?» Von Expertenseite wurde uns geraten, sich am Anfang eher anüberschaubare Themenzu wagen, bis einNetzwerkvon Forschern und Institutionen aufgebaut ist. Der Nachmittag hat uns unter anderem gezeigt, dass man als einzelner Praxispädiater desKnow-hows einer funktionierenden Forschungsgruppean einer Klinik oder an einem anderen Institut (z.B. den Instituten für Hausarztmedizin oder an einer Fachhochschule) bedarf. Diese wiederum können von den in den Praxentagtäglich erhobenen Daten und der vielen Patienten profitieren. Wir Kinderärzte sind gefordert , in unseren Regionen innerhalb der bestehenden Strukturen – sei es an einer Kinderklinik (z.B. in Zusammenarbeit mit der kürzlich geschaffenen Stelle für Versorgungsforschung am Universitäts-Kinderspital Zürich) oder an den Instituten für Hausarztmedizin (z.B. in Basel, Bern oder Zürich) unsere Ideen aktiv einzubringen . Damit eine solche Kooperation funktioniert braucht es schliesslich auch das «feu sacré» der Kinderärztinnen in der Praxis. Um die Mitarbeit an einem Forschungsprojekt für einen Praxispädiater attraktiv zu machen, wurde die Idee von möglicherCredit-Vergabefür Projektarbeit eingebracht. Erfreulicherweise haben sich vier der Teilnehmer dazu bereit erklärt, die generierten Ideen innerhalb einerArbeitsgruppeweiterzuentwickeln. Mit der Wintertagung ist zwar erst ein kleiner Schritt getan; wir sind aber überzeugt, dass wir damiteinen Stein ins Rollenbringen können. Das Engagement der Teilnehmerinnen und die Unterstützung durch die Referenten stimmen uns zuversichtlich, dass ein langgehegter Wunsch von Kinderärzte Schweiz nun mehr Fleisch am Knochen bekommen dürfte. ■ Wenn Sie Interesse zur Mitarbeit an der Forschung in der kinderärztlichen Praxis haben, dann melden Sie sich bitte bei unserem Geschäftsführer. E-Mail: daniel.brandl@kinderaerzteschweiz.ch.

BERUFSPOL I T I K 01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 18 Boiled Frog Effekt Kennen Sie den «Boiled Frog Effekt?» Frösche sind Wechselblüter, sie passen ihre Temperatur an die Umgebung an. Heisst: Setzt man sie in heisses Wasser, jucken sie sofort heraus. Setzt man sie hingegen in kaltes Wasser und steigert die Wassertemperatur ganz, ganz langsam, harrt der Frosch aus, bis es zu spät ist und er gegart stirbt. Kein schönes Experiment (es wurde Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt), aber ein vielsagendes. Wir verhalten uns wie Frösche. Egal, ob es um Klimaerwärmung, Schuldenwirtschaft, Verbote, Überwachung, Toleranz gegen Intoleranz oder Zensur geht: Unser gesellschaftliches Alarmsystem reagiert schlecht auf langsame Veränderungen – oft bis es zu spät ist. (Aus: «Ars Medici» 23/2019, S. 824, gesehen von KIS-CL) Soll man die Luftblasen in gebrauchsfertigen Impfstoffen entfernen? Nein. Der Zweck dieser Luftblasen ist es, 1) die intramuskuläre Injektion der gesamten Dosis des Impfstoffs (Totraum) zu ermöglichen und 2) zu verhindern, dass der Impfstoff im Injektionskanal verbleibt, was das Risiko von Nebenwirkungen erhöht. Vor der Injektion eines Impfstoffs ist es daher sinnvoll, die Spritze mit der Nadel nach unten zu positionieren… sodass die Luftblase zuletzt kommt! (Aus: «Infovac» 11-12 2019, gesehen von KIS-CL) Neues Mitglied in der Redaktionskommission: Dr. med. Martin Schmidt Ich bin Pädiater in einer Gruppenpraxis in Rheinfelden/AG, in der Region zeitlebens und vor Ort seit 12 Jahren verwurzelt. Bei der Erweiterung meines Horizontes helfen mir Akupunktur, Basketball, Glasblasen und neu auch die KIS News. Die Basis bildet dabei natürlich meine Familie mit meiner Powerfrau Caroline und den drei Kindern zwischen 8 und 15 Jahren – sowie den inzwischen 16 Seidenhühnern. Ich möchte mich in der Praxispädiatrie auf diesem Wege einbringen, um den unermüdlichen Schaffern für unseren Berufsstand etwas beizustehen, meinen Respekt zu zeigen und entsprechend auch mit der Zeit hier Verantwortung zu übernehmen. Wir leben für und miteinander – das klingt so banal wie wahr und ist doch immer wieder schwierig, im Alltag täglich umzusetzen. (Text/Bild: KIS-MS) Neues Mitglied in der Redaktionskommission: Dr. med. Irmela Heinrichs Ich bin Irmela Heinrichs, Fachärztin für Kinderund Jugendmedizin. Gemeinsam mit drei «Erwachsenenmedizinern» arbeite ich seit 9 Jahren in der Quellenpraxis Uster. Die Facharztausbildung habe ich in Bremen und Wesel am Niederrhein absolviert und den Schwerpunkt pädiatrische Pneumologie in Davos beendet. Zu Hause habe ich drei Teenager und gehe gerne Rudern und Velofahren. Vor vielen Jahren war ich im Redaktionsteam unserer Schülerzeitung in Berlin und freue mich, mein Interesse am Journalismus mit KIS News wieder aufleben zu lassen und wichtige Themen für die Pädiatrie mit zu veröffentlichen. (Text/Bild: KIS-IH) KIS Mitarbeit im Projekt Miapas geht weiter Unser Engagement im Projekt Miapas von Gesundheitsförderung Schweiz, welches die Gesundheit von Kleinkindern in der Schweiz fördert, geht weiter! Der Kooperationsvertrag wurde für weitere zwei Jahre unterzeichnet. Wir danken der KIS Vertreterin Sabine Heiniger herzlich für ihr Engagement und werden über die Fortschritte von Miapas berichten. (Text: KIS-DFB) INFOVAC Wie konnten wir je ohne? Nur die Älteren unter uns können sich daran erinnern. INFOVAC ist nämlich schon 20 Jahre alt. Herzliche Gratulation. Und vor allem: herzlichen Dank. Dank für klare Antworten, für Grundsätzliches, Aktuelles, Bekanntes, Banales, Praktisches, Wichtiges, Neues, Seltenes. Dank für das Bulletin und die immer schnelle Beantwortung unserer Fragen. Dank auch an die Kostenträger (insbesondere das BAG und die SGP). (Text: KIS-RT) Pinnwand Lesenswertes aus dem Vorstand, Arbeitsgruppen und dem Rest der Welt

Wechsel Leitung Kurswesen Unsere Vizepräsidentin Helena Gerritsma Schirlo hat per 1. Januar 2020 die Leitung der Arbeitsgruppe Kurswesen von Jan Cahlik übernommen. Wir danken Jan herzlich für sein jahrelanges, unermüdliches und lobenswertes Engagement zum Erhalt und Ausbau des breiten Kursangebotes und freuen uns darüber, dass Helena Gerritsma Schirlo und Beatrice Kivanc von der Geschäftsstelle dieses gut geölte Ressort nahtlos gemeinsam weiterführen werden. (Text/Bilder: KIS-HG) Neuauflage SGP Gesundheitsheft Ab 2020 werden neugeborene Kinder die neue Ausgabe des Gesundheitshefts der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie erhalten. Die Neuauflage des seit 2006 verbreiteten Gesundheitshefts wurde von einer Arbeitsgruppe der SGP erstellt, der ein Vertreter aus Praxis oder Spital aus jeder Sprachregion angehört. Während der Überarbeitung wurden ebenfalls verschiedene Kinderärztinnen und Kinderärzte befragt. Die Bestelladresse lautet: gesundheitsheft@css.ch Lesen Sie über den folgenden Link mehr zu den Neuerungen und Zielen des Gesundheitshefts: https://paediatrica.swiss-paediatrics.org/ das-neue-gesundheitsheft-sgp-2020/ (Text/Bild: SGP) KIS Jahrestagung vom 2./3. September 2020 Kinderärzte Schweiz feiert dieses Jahr das 25-jährige Bestehen! Damit wir diesen Anlass gebührend mit unseren Mitgliedern feiern können, wird es am Vorabend der Jahrestagung ein Vorprogramm mit Workshops sowie ein Galadinner mit Unterhaltung und eine Party mit DJ geben. Die Eckdaten sind wie folgt: Mittwoch, 2. September 2020 – Vorprogramm 1 um 16.45 Uhr – Apéro um 17.45 Uhr – Vorprogramm 2 um 18.15 Uhr – Galadinner mit Unterhaltung um 19.30 Uhr – Gefolgt von heissen Tanzhits präsentiert von DJ Donald (open end) Donnerstag, 3. September 2020 – ganzer Tag (Vorprogramme ab 8.30 Uhr/Supplément bis 18.50 Uhr) Im Campus Sursee wurden genügend Zimmer für Übernachtungen reserviert. Das volle Programm wird am Donnerstag, 7. Mai 2020 auf www.jahrestagung.ch aufgeschaltet. Anmeldungen nehmen wir ab Dienstag, 19. Mai 2020 um 08.00 Uhr online entgegen. (Text: KIS/DFB-CC) Neue Jobbörse: «Temporäre Vertretungen» Diese neue Initiative erlaubt interessierten Mitgliedern, welche eine Aushilfe brauchen, über den Stellen- und Praxismarkt der KIS Website mit pensionierten Praxispädiatern/-innen ohne viele Formalitäten miteinander in Kontakt zu treten – niederschwellig, ohne Spesen, als Dienstleistung für unsere Mitgliedschaft. Einerseits gibt es KIS Mitglieder, welche wegen Krankheit, Praxisüberlastung, anderen unvorhersehbaren Ereignissen, Ferienabwesenheiten oder Elternurlaub eine versierte Vertretung für ihre Praxis brauchen. Andererseits haben wir vermutlich in unseren Reihen einige pensionierte Kinderärztinnen und -ärzte, welche Lust und Zeit zu sporadischen Einsätzen als Aushilfe in einer Praxis haben, um ihr reiches Wissen sowie ihre Lebens- und Praxiserfahrung bei Teilzeiteinsätzen mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu teilen, und um die Freude an der Arbeit in der Praxis wieder zu erleben. Wir hoffen auf gute Resonanz, sodass sich die Zeilen dieser neuen Jobbörse bald füllen werden. (Text: KIS-DFB) Ausflug und Planungssitzung Redaktionskomission vom 7. November 2019 Um die Themenhefte für das übernächste Jahr zu planen, trifft sich die Redaktionskommission jeden Herbst zu einem Ausflug und einer Sitzung. 2019 führte die Reise an die Basler Herbstmesse, welche diejenigen Mitglieder, die sich am Nachmittag bereits frei machen konnten, mit Fahrten auf der Rösslirytti, dem Riesenrad, einem Bummel durch die Innenstadt und mit kalorienreicher Verpflegung genossen. Am Abend kam das ganze Gremium zusammen, um für euch die Themen von vier spannenden Ausgaben für das Jahr 2021 zu planen. (Text/Foto: KIS-DFB) (v.l.n.r. Irmela Heinrichs, Köbi von Känel, Cyril Lüdin, Stefanie Gissler Wyss)

In der Druckausgabe befindet sich auf dieser Seite ein Hinweis für medizinische Fachpersonen.

01 / 2020 BERUFSPOL I T I K K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 15 mfe médecins de famille et de l’enfance, seit zehn Jahren der einflussreiche und schlagkräftige politische Arm der Grundversorgergesellschaften SGAIM (Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin) und SGP (Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie). (https://www.hausaerzteschweiz.ch/) Pädiatrie in mfe Die Pädiatrie ist in mfe stark vertreten: eine Vizepräsidentin, zwei weitere Vorstandsmitglieder, 12 Delegierte, unter anderem der Vizepräsident SGP, der Präsident KIS und mehrere Vorstandsmitglieder kantonaler Verbände. Sie alle sind standespolitisch aktiv und nehmen eure Anliegen gerne entgegen. https://www.hausaerzteschweiz.ch/ueber-uns/ organisation/delegierte Eidgenössische Räte Das im Herbst neu gewählte Parlament hat seine erste Session abgehalten. Ein wichtiges Geschäft ist die Besetzung der Kommissionen, welche die Geschäfte vorberaten und die Entscheidung der Kammern meist schon vorwegnehmen. Wie in der Schweiz üblich, werden die Kommissionen nicht nach fachlichen Kriterien besetzt, sondern gemäss der Fraktionsstärke der Parteien und deren internen Überlegungen. https://www.parlament.ch/de/organe/kommissionen/ sachbereichskommissionen/kommissionen-sgk. In der Wintersession hat das Parlament 40 Geschäfte mit Bezug zum Gesundheitswesen diskutiert und 47 Interpellationen behandelt, in den Fragestunden hat der Bundesrat 25 Antworten geliefert. Noch ist die gesundheitspolitische Ausrichtung des Parlaments nicht definiert. Vielleicht ist es etwas weniger nah an den Krankenkassen, aber wohl kontroll- und regulationsfreudiger und interventionistischer als das vorherige. Die Debatten um die Kostensparvorlagen werden bald erste Erkenntnisse liefern. mfe ist nah dabei, verfolgt, bearbeitet, schlussfolgert, interveniert, antizipiert. Parlament und Pädiatrie Der Zulassungsstopp erfährt ein weiteres Provisorium. Die Revision der Geburtsgebrechen-Liste wurde aufgegleist und ist in der Vernehmlassung. mfe, SGP und KIS haben in gegenseitiger Absprache ihre Antworten deponiert. Die Pflegeinitiative wartet auf ihre Behandlung im Ständerat. Die Verordnung von Psychotherapie (Delegations- oder Anordnungsmodell) wird vom Bundesrat neu geregelt werden. Der Ständerat nahm die Motion von Damian Müller (FDP Luzern, Mitglied der Parlamentarischen Gruppe Kinder- und Jugendmedizin) «Mehr Zeit für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen» an. Stimmt der Nationalrat ebenfalls zu, muss der Bundesrat eine Gesetzesgrundlage schaffen, welche adäquate Tarife gewährleisten soll. Bundesrat und SwissDRG sind der Meinung, dass keine neuen Gesetze erforderlich sind. Qualität der Debatte «Zum Beispiel sollte die Computertomografie bei Blinddarmverdacht bei Kindern nur durchgeführt werden, falls eine vorgängige Ultraschalluntersuchung nicht zielführend war.» »» Da werden wir wohl alle vorbehaltlos zustimmen, umso mehr wir kaum Kinder kennen, welche bei dieser Diagnose vorerst mal in die Röhre geschoben wurden. Wenn es sich bei dieser Empfehlung aber um einen ernst gemeinten Sparvorschlag handelt, kugeln wir uns zu Recht ausgiebig vor Lachen. Und wenn wir von diesem Sparvorschlag in der NZZ lesen und realisieren, dass er vom Generalsekretär und Mitglied der Generaldirektion eines grossen Versicherers und Vizepräsidenten von santésuisse stammt, gefriert das Lachen und verwandelt sich in ungläubige Konsternation. Zukunft Wir werden uns noch oft ärgern müssen. Ein Teil des Ärgers lässt sich durch frühzeitige und fortlaufende Information und Diskussionen mit den Entscheidungsträgerinnen und -trägern vermeiden. Dafür setzt sich mfe ein. Eine allen zur Verfügung stehende medizinische Grundversorgung von hoher Qualität zum bestmöglichen Nutzen für die Bevölkerung. ■ DR. MED. ROLF TEMPERLI VORSTANDSMITGLIED MFE, EHRENMITGLIED KIS, LIEBEFELD Korrespondenzadresse: temperli-rossini@bluewin.ch

FORTB I LDUNG 01 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 16 Einleitung Wie wäre eine medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen, bei der neben den klassischen konventionellen Therapien selbstverständlich auch traditionelle und komplementäre Methoden zum Einsatz kommen, die je nach Situation und Setting unterschiedlich kombiniert werden und die sowohl dem Stand des Wissens als auch den Bedürfnissen von Patienten Rechnung tragen? Eine pädiatrische Versorgung, bei der die technisch hochentwickelten Behandlungsverfahren der naturwissenschaftlich geprägten Medizin ergänzt werden durch traditionelle Hausmittel und komplementärmedizinische Massnahmen, wobei letztere durch Unterstützung der Selbstheilungskräfte gezielt zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit beitragen. Eine Kinder- und Jugendmedizin also, in der die Beziehung zwischen Arzt, Patient und Familie im Zentrum steht und die sich nicht verliert im technisch Machbaren, in Fallpauschalen und Managed Care auf der einen Seite bzw. in einer romantisch-irrationalen Alternativmedizin auf der anderen Seite. Diese Art der Versorgung ist keine Utopie, sondern bei vielen Pädiatern in der Schweiz eine im Alltag praktizierte Realität [1], die heute als integrative Pädiatrie (integrative Medizin in der Pädiatrie) bezeichnet wird [2]. Integrative Medizin Die Begriffe konventionelle, komplementäre und alternative Medizin bzw. Therapie werden auch unter Fachleuten nicht immer einheitlich verwendet, was die Verständigung und sachbezogene Auseinandersetzung erschwert. Zur Klärung wird auf die Tabelle 1 verwiesen. Der übergeordnete Begriff integrative Medizin beschreibt allgemein eine patienten-zentrierte Versorgung, bei der aufgrund von Evidenz und Erfahrung alle angemessenen präventiven und therapeutischen Methoden einschliesslich komplementärer Therapien eingesetzt werden, um Gesundheit und Heilung bestmöglich zu fördern [3]. Die Ergänzung des konventionellen Behandlungsspektrums durch komplementäre Therapien führt zu einer Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten. Sowohl für den Arzt, der in seiner therapeutischen Praxis dadurch viel differenzierter vorgehen kann, als auch für die Patienten ergibt sich so ein Mehrwert gegenüber der reinen Schulmedizin. Je nach klinischer Situation können in einem integrativen Ansatz die komplementären Therapien primär allein angewendet werden oder direkt in Kombination mit konventionellen Therapien, um synergistische Effekte zu erzielen [2]. Was als medizinischer Mainstream gilt, mag v.a. auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogen klar sein. Mit Blick auf die einzelnen Therapien ist die Zuordnung zu konventionell bzw. komplementär keineswegs immer eindeutig, da sie insbesondere geografisch und über die Zeit variieren kann. Das soll an zwei Beispielen illustriert werden: Lange vor Beginn der naturwissenschaftlichen Medizin im 19. Jahrhundert waren pflanzliche Arzneimittel weit verbreitet und vielfach als Standardtherapie etabliert – heute zählt die Phytotherapie zur Komplementärmedizin; die Anwendung von Bakterien zur Symbioselenkung war bis vor einigen Jahren vor allem in komplementärmedizinischen Kreisen ein Thema – heute sind Probiotika bei verschiedenen Störungen als konventionelle Therapie im Mainstream angekommen. Welche konventionellen und komplementären Therapien im Einzelfall konkret zum Einsatz kommen, hängt von wissenschaftlicher Evidenz und ärztlicher Erfahrung ab und wird darüber hinaus von Patientenbedürfnissen sowie von kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren mitbestimmt. Die integrative Medizin kennzeichnet ein Methodenpluralismus in Prävention und Therapie, den man durchaus als Chance verstehen kann für die Erarbeitung einer voll orchestrierten Medizin und für eine Verbesserung der Patientenversorgung. Er ist nicht nur in unserer pluralistischen Gesellschaft, sondern vor allem in den verschiedenen, sich ergänzenden Sichtweisen und Zugangswegen begründet, die es braucht, um den Menschen als Ganzes zu erfassen [4,5]. Komplementärmedizin und integrative Pädiatrie in der Schweiz In der Schweiz haben komplementärmedizinische Verfahren eine lange Tradition und viele Kinder- und Jugendärzte praktizieren seit jeher im Sinne der integrativen Medizin. Es gibt eine sehr grosse Zahl verschiedener komplementärmedizinischer Richtungen und Methoden, wobei unter Pädiatern die vier in der Schweiz anerkannten Richtungen am meisten verbreitet sind: Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Phytotherapie und Traditionelle Chinesische Medizin/Akupunktur [1]. Für diese gibt es jeweils strukturierte WeiterbildungsWas ist integrative Pädiatrie? DR. MED. BENEDIKT M. HUBER ZENTRUM FÜR INTEGRATIVE PÄDIATRIE, KLINIK FÜR PÄDIATRIE HFR FREIBURGKANTONSSPITAL, FREIBURG Korrespondenzadresse: benedikt.huber@h-fr.ch In der integrativen Pädiatrie werden auf Grundlage von Evidenz und Erfahrung konventionelle und komplementäre Therapiemethoden in einem interprofessionellen Ansatz verwendet, um die individuelle Entwicklung und Gesundheit eines jeden Kindes in seinem Umfeld bestmöglich zu fördern (Schweizerische Interessengruppe für integrative Pädiatrie 2017).

01 / 2020 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 17 programme vom Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF), die nach abgeschlossener Facharztweiterbildung zum Erwerb des entsprechenden Fähigkeitsausweises führen [6]. Wie in anderen Ländern ist auch in der Schweiz die Nachfrage bzw. Nutzung von Komplementärmedizin bei Kindern und Jugendlichen generell hoch [7]. Gemäss einer direkten Befragung von Schweizer Kinderärzten werden sogar fast alle Pädiater (97%) von Patienten bzw. deren Eltern nach Behandlungsmöglichkeiten aus dem Bereich der Komplementärmedizin gefragt [1]. Auch wenn man selbst keine komplementären Therapien anbietet, ergibt sich aus dieser Nachfrage ein gewisser Bedarf nach Grundkenntnissen zu komplementärmedizinischen Themen bei Kinder- und Jugendärzten, die für viele Familien ja die primären Ansprechpartner zu allen Fragen rund um Gesundheit, Krankheit und Entwicklung sind. Tatsächlich wünschen sich zwei Drittel der Pädiater in der Schweiz (mehr) Fortbildungen zu Themen der komplementären und integrativen Medizin [1]. Dazu möchte auch die Schweizerische Interessengruppe für integrative Pädiatrie (SIGIP) beitragen, die vor 3 Jahren nach dem Vorbild der Section on integrative medicine der American Academy of Pediatrics gegründet wurde [8]. Zudem besteht ein grosser Bedarf für mehr Forschung in der komplementären und integrativen Medizin in der Pädiatrie. Diese sollte neben den bestehenden Strukturen der Universitätsspitäler und Forschungszentren unbedingt auch die Praxispädiater miteinbeziehen, analog zu der heute zunehmend etablierten Forschung im Bereich der Hausarztmedizin. So können verschiedene Bereiche und Fragestellungen der integrativen Pädiatrie nach den Prinzipien der evidenz-basierten Medizin untersucht werden [9]. Die vielfach noch ungenügende wissenschaftliche Evidenz für komplementäre Therapien und integrative Behandlungskonzepte bei Kindern und Jugendlichen spricht aber nicht a priori gegen deren Anwendung, sofern nicht von vornherein ein relevantes Sicherheitsrisiko bekannt ist. In der Praxis kann bei der Auswahl passender Therapien das Schema in Abbildung 1 hilfreich sein, in das in Ermangelung klinischer Studien auch die ärztliche Erfahrung einfliesst. Die wachsende Bedeutung des integrativen Ansatzes in der Pädiatrie zeigt sich nicht nur an der steigenden Zahl von integrativ tätigen Kinder- und Jugendärzten sowie der Zunahme wissenschaftlicher Publikationen auf diesem Gebiet, sondern auch daran, dass das Thema integrative Pädiatrie in den wissenschaftlichen Programmen von Fachtagungen und Kongressen auftaucht. Beispielsweise wurde diesem Thema auf den letztjährigen Kongressen für Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland und Österreich eine Parallelsession bzw. eine Plenarsitzung gewidmet. Der Schweizer PädiatrieKongress 2020 geht noch einen Schritt weiter, indem die integrative Pädiatrie zum Hauptthema gemacht und der Kongress unter das Motto «building bridges between conventional and complementary medicine» gestellt wird (mehr Infos unter https://www.bbscongress. ch/2020/sgp-2020/). ■ Tabelle 1. Begriffserläuterungen Konventionelle Medizin Die in westlichen Ländern vorherrschende wissenschaftliche Medizin (Schulmedizin, Mainstream Medizin) Alternative Medizin Therapiemethoden, die diejenigen der konventionellen Medizin ersetzen Komplementäre Medizin Therapiemethoden, die diejenigen der konventionellen Medizin ergänzen und erweitern Integrative Medizin Ganzheitlicher Ansatz einer koordinierten Anwendung von konventionellen und komplementären Therapiemethoden mit einem Fokus auf interprofessionelle Zusammenarbeit REFERENZEN 1. Huber BM, von Schoen-Angerer T, Hasselmann O, Wildhaber J, Wolf U. Swiss paediatrician survey on complementary medicine. Swiss Med Wkly 2019;149:w20091. 2. McClafferty H, Vohra S, Bailey M, et al. Pediatric integrative medicine. Pediatrics 2017;140(3):e20171961. 3. Snyderman R, Weil AT. Integrative medicine: bringing medicine back to its roots. Arch Intern Med 2002;162(4):395–7. 4. Matthiessen PF. Pluralität – auf dem Weg zu einer integrativen Medizin? Forsch Komplementmed 2008;15(5):248–50. 5. Heusser P. East meets west – but bridging concepts are still lacking! Time for new steps in medical anthropology. Forsch Komplementmed 2015;22(5):285–7. 6. https://www.siwf.ch/weiterbildung/faehigkeitsausweise.cfm 7. Zuzak TJ, Bonkova J, Careddu D, et al. Use of complementary and alternative medicine by children in Europe: published data and expert perspectives. Complement Ther Med 2013;21S:S34–47. 8. Huber BM, Ogal M, Hasselmann O, von Schoen-Angerer T. Schweizer Interessengruppe für integrative Pädiatrie. Paediatrica 2017;28(3):23–4. 9. Vohra S, Zorzela l, Kemper K, Vlieger A, Pintov S. Setting a research agenda for pediatric complementary and integrative medicine: a consensus approach. Complement Ther Med 2019;42:27–32. Ist die Therapie wirksam? Ja Nein Ist die Therapie sicher? Ja Anwendung empfehlen Anwendung tolerieren Nein Anwendung überwachen oder vermeiden Anwendung zwingend vermeiden Abbildung 1. Pragmatisches Schema als Hilfe zur Auswahl bzw. Empfehlung von Therapien, das für konventionelle und komplementäre Therapien gleichermassen anwendbar ist (nach [2], Übersetzung BMH).

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