KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2019
BERUFSPOL I T I K 04 / 2019 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 8 INTERVIEWER: DR. MED. JAN CAHLIK, VORSTANDSMITGLIED KIS, PRAXISPÄDIATER IN AFFOLTERN A. A. Korrespondenzadresse: b.j.cahlik@datazug.ch INTERVIEWTE: PROF. DR. MED. PHILIP TARR, FACHARZT ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN FMH UND INFEKTIOLOGIE FMH, CO- CHEFARZT MEDIZINISCHE UNIVERSITÄTSKLINIK, INFEKTIOLOGIE UND SPITALHYGIENE, KANTONS- SPITAL BASELLAND, BRUDERHOLZ Korrespondenzadresse: philip.tarr@ksbl.ch PROF. DR. MED. CHRISTOPH BERGER, FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH UND INFEKTIO- LOGIE FMH, LEITER ABTEILUNG INFEKTIO- LOGIE UND SPITAL HYGIENE, UNIVERSI- TÄTS-KINDERSPITAL ZÜRICH Korrespondenzadresse: Christoph.Berger@kispi.uzh.ch I n einer der letzten Ausgaben des «Swiss Medical Fo- rum» wurden neue Empfehlungen für die Handhabung von Streptokokken-Angina (oder den Verdacht darauf) veröffentlicht (siehe: https://medicalforum.ch/article/doi/ smf.2019.08092). Deutet sich hier ein Paradigmenwech- sel in der Handhabung an oder ist dies gar nicht so neu? Auf jeden Fall bleiben hier etliche Fragen offen. Wir ba- ten den Verfasser des Artikels Philip Tarr sowie Christoph Berger, der ein Editorial im Forum zu diesem Artikel ge- schrieben hat, zu einigen Punkten Stellung zu beziehen. KIS: Im genannten Artikel wird beschrieben, dass Komplikationen einer Streptokokkeninfektion (rheumat. Fieber, Herzklappenschädigungen, Nierenbeteiligung, Abszesse) nicht mehr (oft) vor- kommen und diese Infektionen daher nicht mehr als bedrohlich angesehen werden. Ist dies wirk- lich so und wenn ja, warum ist es so: «Evolution» oder konsequente Behandlung bisher? Philip Tarr (PT): Die europäischen Guidelines empfeh- len seit 2012, dass die Verhinderung von rheumatischem Fieber, von Glomerulonephritis und von Peritonsillar abszessen keine Indikation ist für einen Antibiotika- einsatz bei Streptokokken-Angina. Die von uns eben- falls zitierten BAG (SPSU) Zahlen legen für die Schweiz das nahe, was in anderen reichen Ländern ebenfalls gut dokumentiert ist: Das rheumatische Fieber ist seit über 50 Jahren extrem selten. Wir haben Literatur gesucht, die belegen würde, dass das Quasi-Verschwinden des rheumatischen Fiebers eine positive Auswirkung des «konsequenten» oder (zu) häufi- gen Antibiotikaeinsatzes ist. Solche Literatur gibt es nicht. Das rheumatische Fieber begann bereits im 19. Jahrhun- dert seltener zu werden, bevor Antibiotika existierten. Im 20. Jahrhundert ging es in Westeuropa und den USA mit dem rheumatischen Fieber immer weiter abwärts. Wahr- scheinlich, so die Experten aus Epidemiologie und Public Health, sind verbesserte sozioökonomische und hygie nische Verhältnisse und nicht Antibiotika verantwortlich für das Verschwinden des rheumatischen Fiebers. Christoph Berger (CB): Wir sprechen hier von der Ton- sillopharyngitis durch Streptokokken der Gruppe A. Ja, deren nicht eitrige Komplikationen sind bei uns sehr selten. Sie müssen als Behandlungsziele einer gene- rellen Therapieempfehlung hinterfragt werden. Diese Ein- schätzung wird in der Europäischen Guideline (ESCMID Guideline for the management of acute sore throat 2012, Pelucchi C et al. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/ 22432746) und auch der in aktuellen Schweizerischen Guideline (https://ssi.guidelines.ch/guideline/2408 ) über- nommen und in der Empfehlung umgesetzt. Auch für die eitrigen Komplikationen wie den Peritonsillarabszess ist die Number Needed to Treat so hoch, dass eine Primärprä- vention mit Antibiotika infrage zu stellen ist. Zudem ist zu beachten, dass bis zu zwei Drittel der Patienten mit rheu- matischem Fieber oder eitrigen Komplikationen vorgän- gig keine Zeichen einer Tonsillopharyngitis zeigen (Edito- rial Tonsillopharyngitis: Berger C SMF 2019: https://www. medicalforum.ch/article/doi/smf.2019.08337 ). Invasive und nekrotisierende Infektionen mit Strep- tokokken der Gruppe A (Sepsis, Pleuropneumonie, Fas- ziitis) können sehr schwere Verläufe zeigen und mit ei- nem Toxic Schock Syndrom verbunden sein, treten aber typischerweise nicht im direkten Kontext mit einer Ton- sillopharyngitis auf. KIS: Gibt es keine (grosse) Gefahr, dass wir in zwei bis drei Jahren wieder Probleme haben und zur konsequenten Behandlung zurückkehren müssen? PT: Die Gefahr eines Wiederaufflammens von rheuma- tischem Fieber scheint nicht gross, aufgrund von detail- lierten Untersuchungen aus England, die wir im FORUM Artikel zitieren: Nach einer Senkung der nationalen An- tibiotikaverschreibungen in den 1990er-Jahren kam es zu keinem Anstieg des rheumatischen Fiebers. Nicht vergessen sollten wir auch, dass wir hierzulande auf vie- le Jahre Erfahrung mit antibiotikafreier Behandlung der Streptokokken-Angina zurückgreifen können: In den Praxen der Pädiater und Hausärztinnen, die Antibioti- ka schon lange nur sehr zurückhaltend einsetzen, sind keine Epidemien von rheumatischem Fieber bekannt. CB: Das wissen wir nicht, es gibt aber heute keine An- haltspunkte, die auf eine solche Entwicklung hinweisen. Verschiedene Länder haben diesen Schritt bereits vor ei- nigen Jahren getan wie z. B. Belgien, UK, oder Schott- land und sehen bisher keine solche Entwicklung. KIS: Bei einer allfälligen antibiotischen Therapie wird eine deutlich kürzere Behandlungsdauer (6 Tage) empfohlen. Besteht hier nicht die Gefahr einer Resistenzentwicklung bei Penicillin? In Län- dern, wo Antibiotika «frei» in den Apotheken erhältlich sind (wie z. B. Spanien oder USA) und somit wesentlich unkontrollierbarer verwendet werden sieht man deutlich höhere Resistenzraten als bei uns. PT: Hier sollten wir aufpassen, dass wir nicht zwei Kon- zepte vermischen. Ja, in südlichen Ländern wie Italien, Bal- kan oder Türkei sind Antibiotikaresistenzen deutlich häu- figer zu finden als bei uns. Und ja, in jenen Ländern sind Antibiotika leichter erhältlich, z.T. rezeptfrei in Apotheken. Aber nein, Antibiotikaresistenzen werden nicht durch zu kurze Dauer der Therapie gefördert, imGegenteil: Antibio- tikaresistenzen werden durch Selektionsdruck induziert, und dieser Selektionsdruck wird durch Antibiotika erzeugt. Wenn also Antibiotika nur sechs Tage und nicht zehn Tage gegeben werden, dann hält der Selektionsdruck in Richtung von Antibiotikaresistenzen nur sechs statt zehn Tage an – dies hat einen günstigen Effekt auf die künftige Resistenzsituation und nicht einen ungünstigen. Interview: neue Empfehlungen bezüglich Streptokokken-Angina
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