KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2019

K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 56 ERFAHRUNGSBER I CHT 04 / 2019 M it dem Wunsch, mehr über Regulationsstörun- gen und kreative Wege mit ihnen umzugehen zu lernen, hat sich am 16. Mai 2019 eine bunte Gruppe aus Mütterberaterinnen, Kinderärzten/-innen und einer Doula im Hottinger Alterszentrum eingefunden.  Lebensnahe Beispiele, subtile red flags und kreative Lösungsansätze; humorvoll und in bildhafter Sprache serviert vom Team für Regulationsstörungen am Triem- lispital. Dieses besteht aus zwei Psychologen (Egon Garstick, Sonya Glanzmann), einem Kinderarzt (Raffael Guggenheim) und einer Fachfrau für den Frühbereich (Anna von Ditfurth). Welches ist die wichtigste Aufgabe von Eltern? Mit zwei simplen Handbewegungen hat es Anna von Ditfurth auf den Punkt gebracht: ■  offene Hand, als «Schale» für: Halten und Trösten ■  bewegte Hand als «liegende 8» für: Interaktion und Beziehung Doch wenn es so einfach ist, warum gelingt es nicht im- mer? Raffael Guggenheim betont zunächst die wichtige Funktion des Kinderarztes. Denn die Art und Weise, wie wir als Kinderärzte/-innen auf das Baby zugehen, hat für die Eltern Vorbildcharakter. Wie wir es wahrnehmen, Augenkontakt mit ihm aufnehmen, seine Mimik spie- geln, es in Ruhe langsam erfassen. Wie wir seine Tön- chen aufnehmen, echoen und damit dem Kind zeigen, dass es wahrgenommen wird. Sein unreifes Nervensys- tem ist rasch ausgelastet und das Gefühl, wahrgenom- men zu werden hilft dem Kind, sich selbst zu regulieren.  Sonya Glanzmann geht dann auf das Kind ein. Den Säugling als Wesen erfassen, das bei Geburt bereits neun Monate alt ist und in dieser Zeit auch schon vie- les erlebt hat. Da war die konstante Geräuschkulisse des mütterlichen Blutstroms, der Atmung, da war vielleicht auch Stress, der noch nachhallt. So klein das Wesen ist, es bringt die Kompetenz mit, eine Beziehung aufbauen zu können. Es wünscht sich Geborgenheit und verläss- liche Bezugspersonen, die seine Signale wahrnehmen und darauf reagieren können. Und das ist, was Eltern geben können: Stabilität, Sicherheit, Vertrautheit!  Wie Eltern das gelingen kann, wird von Egon Garstick ausgeführt. Der von Donald W. Winnicott geprägte Be- griff der «good enough mother» schafft beste Voraus- setzungen, um den Säugling bei seiner Selbstregulation gut unterstützen zu können. Sich «gut genug» zu füh- len, schafft für Eltern den nötigen Raum, um ihre intu- itiven elterlichen Kompetenzen zu entdecken und zu pflegen. Wir lernen das Thema Regulation als einen le- benslangen Prozess kennen. Als Eltern helfen wir un- serem Kind sich zu beruhigen, seine Emotionen zu in- tegrieren: «Ja, jetzt bist du wütend/traurig». Solch ein Spiegel hilft dem Kind, seine Gemütszustände selbst zu verstehen und sie einzuordnen. Kinder zeigen mit ihrem Verhalten, was sie bisher gelernt haben.  Und wie helfen wir als Eltern uns selbst? Hier zeigt Anna von Ditfurth uns wichtige Einsichten, z. B. aus der Schule von Mechthild Papousek: Rutschen wir in einen Teufelskreis ab oder schaffen wir es mit gegenseitiger Unterstützung, einen Engelskreis zu generieren? Ein Le- ben lang brauchen wir in diesem Bereich Zuwendung. Den Engelskreis fördern wir mit dem Fokus aufs «Jetzt». Egal, was vorher war: Was geschieht gerade jetzt? Nicht alles braucht eine Analyse! Zwei weitere Instrumente sind Feinfühligkeit und Entschleunigung. Kleine Kin- der sind mit ihren Sinnen unterwegs. Das ist etwas viel Langsameres, aber auch Feinfühligeres, als mit dem Ver- stand unterwegs zu sein. Durch Langsamkeit können Erfahrungen gemacht und am eigenen Körper erlebt werden. Somit gilt also: Nicht nur das Kind hat auf sei- nem Weg vieles zu lernen; auch Eltern brauchen Zeit, um in ihre Rolle hineinzuwachsen.  Ursachen für Schreikinder? Sie sind vielfältig: Jedes ge- stresste Baby hat einen störenden GER (Gastroösophage- alen Reflux), den Raffael Guggenheim als sekundären Re- flux bezeichnet, und der zu einem GERD werden kann, der auch behandelt werden muss. Wichtig ist das Erken- nen einer allfälligen postnatalen mütterlichen Depres­ sion (10–25%!), die auch verzögert auftreten kann. Des Weiteren auch unrealistische Erwartungen der Eltern be- züglich Schlaf, Schreien und Ernährung, getriggert durch Social Media; Verarbeitung von Angst, Trauer und Verlus- ten, um nur einige zu nennen. Hier lohnt es sich, gezielte Fragen zu stellen: Energiebarometer der Eltern (mittels VAS-Skala)? Wie ist die Energie jetzt? Wie ist sie in der Nacht? Wie ist sie, wenn das Kind untröstlich weint? Wie war das mit dem Kinderwunsch? Wie verliefen Schwan- gerschaft und die Geburt? Vielleicht war da schon ein Schlafmangel in der Schwangerschaft? Grundsätzlich gilt im Triemli (und auch für uns): In Erschöpfungssituationen sind Eltern durch Beratung überfordert. Hier braucht es zu- allererst ein Holding z.B. durch den Kinderarzt, sowie die Planung von Entlastung, z.B. durch Familienangehörige, Freunde, das Rote Kreuz oder Soziale Dienste (s. Tabelle).  Ansätze zur Hilfe: In unserer Funktion als Kinderärzte/ -innen können wir Eltern Wertschätzung und Anerken- nung entgegenbringen, nicht zu schnell pathologisie- ren, entlasten und gemeinsam eine Situation aushalten. Arbeiten mit Bildsprache: Eltern sind der einzige Bezug DR. MED. REGULA ZIEGLER-BÜRGI, FACHÄRZTIN FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, KÜSNACHT Korrespondenzadresse: regula.ziegler@bluewin.ch Überforderte Säuglinge – überforderte Eltern? Schreien, Schlafen und Füttern als Herausforderung

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