KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2019

K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 36 JAHRESTAGUNG 2019 I n familiärer Runde stellte sich Herr Mahir Mustafa, Fachmann für interkulturelle Fragen und Dozent an der Höheren Fachschule Agogis, Zürich vor. Sogleich befanden wir uns mitten im Thema, als er mit einem spitzbübischen aber auch wehmütigen Lächeln von ei- ner früheren Wohnungssuche erzählte, bei der er sich am Telefon bewusst als Herr Mahir (sprich: Maier) vor- gestellt hatte, im Wissen, dass er nur so die Chance ha- ben würde, die begehrte Wohnung überhaupt besich- tigen zu dürfen. (Die Wohnung bekam er dann nach der Begegnung mit dem zunächst irritierten Vermieter, welcher ihn fragte: «sind Sie wirklich Herr Maier…?»).  Alle Teilnehmenden berichteten von eigenen Erfahrun- gen mit unbefriedigenden Sprechstundensituationen we- gen der durch eine vorhandene Sprachbarriere (oder eben Kulturbarriere) kaummöglichen Anamnese (unsere Kern- kompetenz, merkt denn das der Vater nicht? – seine Hal- tung aber: Man geht zum Arzt, wenn man krank ist und Hilfe braucht, nicht etwa um mit dem Arzt zu plaudern!) und wegen gespürter oder auch ausgesprochener Erwar- tungen der Eltern an uns Pädiater/-innen: gute Ärzte/-in- nen sind diejenigen, die ihre Patienten ernst nehmen, ihre Sorgen verstehen und aktiv handeln, d.h. den Patienten helfen, innerhalb kürzester Zeit wieder gesund zu werden – ergo Spritzen, Antibiotika, starke Medikamente – sowie ihre Patienten zu den Spezialisten überweisen. Das alles machen wir aber nur im (äussersten) Notfall!  Das Aufzeigen der Kulturmodelle von F. Trompenaars sowie G. Hofstede (Fig. 1) und Zitate dieser Autoren zeigten uns auf, dass kein Mensch ganz den Durch- schnittswerten seiner Kultur entspricht. Wir sollten da- her den Begriff «Normalität» täglich hinterfragen und reflektieren, denn Kultur verbirgt mehr, als sie offen- bart (Eisbergmodell)… Jahrelange Studien haben ge- zeigt, dass die wirkliche Leistung nicht das Verstehen von fremden Kulturen, sondern das der eigenen Kul- tur ist (Zitat E. Hall).  Die mit kurzweiligen Details ausgeschmückten Schil- derungen verschiedener Praxis- sowie Alltagssituationen veranschaulichten gut die essenzielle Wichtigkeit interkul- tureller Orientierung (z.B.: Was bedeutet Daumen hoch in anderer Kultur? Was bedeutet Nicken? Was bedeutet Blickkontakt eines Kindes mit einem Erwachsenen?) als Voraussetzung für die interkulturelle Verständigung, wie sie für uns Kinderärzte/-innen in der Sprechstunde doch sehr wünschens- und erstrebenswert wäre!  Wie diffizil die Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen sind, deren Lebenswelten, Weltanschau- ungen, sozialen Praktiken, Kommunikations- und Re- präsentationsmittel sich unterscheiden, erklärte uns Herr Mustafa anhand weiterer Fallbeispiele, immer mit dem Focus auf die im Vordergrund stehende Begeg- nung («Begegnung mit dem Fremden setzt eine Begeg- nung mit sich selbst voraus») sowie die teilnehmende Beobachtung («Beobachten Sie sich selbst achtsam – denn so werden Sie das Fremde verstehen.» «Beobach- ten Sie das Fremde achtsam – denn so lernen Sie sich selbst kennen.»)  Gerne möchten wir alle als professionell arbeitend und handelnd wahrgenommen werden. Ein professi- oneller Umgang mit Unterschieden aller Art bedeutet eine Gratwanderung zwischen der Wahrnehmung von Unterschieden und der Einordnung dieser, ohne dabei in Stereotypien zu verfallen, d. h. nach der Wahrneh- mung von Unterschieden diese nicht bei der Einord- nung wieder zu vereinfachen oder auch zu idealisieren. Als Ziele formulierten wir und gab Herr Mustafa uns mit auf den Weg: ■  Täglich an sich selbst arbeiten und sich hinterfragen. Sich nicht von Vormeinungen, Stigmatisierungen, Ste- reotypen und Vorurteilen leiten lassen (auch wenn wir uns immer wieder dabei ertappen). ■  Das Bewusstwerden der eigenen und fremden kul- turspezifischen, kommunikativen Merkmale (verbal und nonverbal) und das Verhalten durch teilnehmende Be- obachtung. ■  Entwicklung und Erhöhung der interkulturellen Kom- petenz. ■  In Gesprächssituationen hilft es uns, den Sachinhalt, die Beziehungs- und Appellbotschaften sowie die Selbst- kundgabe auseinanderhalten zu versuchen, wenn mög- lich direkt ansprechen bzw. erfragen, um auf diese Wei- se Klarheit zu erreichen! ■  Bei sich selbst anfangen, ummehr Bewusstheit für sich zu schaffen. Nicht andere «auseinandernehmen», analy- sieren, kritisieren, therapieren, sondern sich weiterbringen, sich zur klaren, erfolgreichen Kommunikation befähigen.  Somit darf ein fehlendes Händeschütteln durch das Ge- genüber bei der Begrüssung im Verlaufe einer Konsultati- on auch angesprochen werden – je nach Einschätzung der Situation («Sie haben mir die Hand nicht gegeben…?»).  Und dürfen wir unser Gegenüber auffordern, die lokale Sprache zu erlernen (cave Traumatisierung nach Migra­ tion) nach dem Motto «fördern aber auch fordern», und es ist genauso wichtig, dass Orientierungen durch (kul- turelle) Vermittler stattfinden.  Als letzte Gedankenanregung durften wir den Frage- bogen Selbsteinschätzung und Reflexion («Wie bin ich unterwegs mit meiner interkulturellen Haltung?» nach Mahir Mustafa) mit nach Hause nehmen. Interessierte können diesen gerne bei der Autorin anfordern. ■ REFERENT: MAHIR MUSTAFA, FACHMANN FÜR INTER­ KULTURELLE FRAGEN, DOZENT AN DER HÖHEREN FACHSCHULE AGOGIS, ZÜRICH MODERATORIN: DR. MED. ANTJE HUGI, FACHÄRZTIN FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, PRAXISPÄDIATERIN IN FRAUENFELD AUTORIN: DR. MED. SERAINA BAY, FACHÄRZTIN FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, PRAXISPÄDIATERIN IN FRAUENFELD KORRESPONDENZADRESSE: seraina.bay@schlossberg- aerzte.ch Workshop 7 – für Ärztinnen und Ärzte: Andere Länder – andere Sitten Werkzeuge im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen Fig. 1: Kulturmodell nach G. Hofstede und anderen 1: universell – ererbt – originäre menschliche Natur 2: gruppen- oder kategorienspezifisch – erlernte Kultur 3: individuumspezifisch – ich-Kultur (Selbstkultur) – entwickelte Persönlichkeit Besonderes Individuelles Erziehung, Sprache, Normen, Verhalten, Werte, Rituale, Religion, Arbeitskultur, Vorstellung von Raum und Zeit, gesellschaftspolitisches System Geburt, Hunger, Freude, Aggression, Trauer, Bedürfnis nach Überleben, Hoffnung auf Versorgung und Zuneigung, Tod 3 2 1

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