KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2019

04 / 2019 BERUFSPOL I T I K K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 11 Endlich! Endlich dürfen wir auf die antibiotische Thera- pie der Streptokokken-Angina verzichten. Somit müssen wir die Streptokokkeninfekte auch nicht mehr suchen. Tausende dringliche Konsultationen wegen Halsweh fal- len weg (was wir der Bevölkerung erst noch beibringen müssen), Tonnen von Antibiotika werden eingespart, mit all den positiven Folgen. Endlich. Und selbstverständlich dürfen wir die Antibiotika immer noch einsetzen, wenn wir es als nötig erachten.  Jetzt müssen schnellstmöglich schweizweit geltende Richtlinien aufgestellt und genehmigt werden.  Und ebenso schnell – und das wird um ein Vielfaches schwieriger sein – muss der unnötige Schulausschluss fal- len. Bei den Kantonsärzten darauf hinzuwirken, wäre eine vornehme Aufgabe für die Praxispädiater, die Aus- wirkungen der neuen Richtlinien zu überprüfen, ein spannendes Thema für eine Praxisstudie. «Endlich… – Primum non nocere!» Der Artikel im Forum zur vorsichtigeren Indikation ei- ner antibiotischen Therapie bei Streptokokken-Angi- na hat mich sehr gefreut. Seit Jahrzehnten sind die Da- ten bekannt und seit Jahren Guidelines herausgegeben, und doch ist «nix» passiert! Neben dem Umstand, dass die Antibiotika nicht für das nützen, wofür wir sie an- geblich einsetzen, muss man auch den Schaden und den «burden of treatment» beachten, welche diese Therapie auslösen. Ich denke dabei an unnötigen Selektionsdruck (s. Interview mit Ph. Tarr), Belastung der Darmflora, al­ lergische Reaktionen einerseits, Schwierigkeiten mit der Gabe andererseits – nicht zu vergessen all die Kollegen, die dann «der Einfachheit halber» mit Co-Amoxicillin in zwei Dosen übertherapieren.  Somit freue ich mich auf die nun zu erarbeitenden neuen Richtlinien der pädiatrischen Infektiologiegruppe Schweiz (PIGS) und einen restriktiveren Umgang mit Anti- biotika bei Streptokokken-Angina. Eine neue Diagnostik- und Therapieempfehlung – und diese sollte bei einem häufigen Konsultationsgrund in unseren Praxen zur Reduktion des Aufwandes führen (zeitlich und wirtschaftlich)! Sehr schön, aber… Es wird empfohlen, für Diagnostik bei Verdacht auf eine Streptokokkeninfektion strengere Kriterien anzuwen- den. Dafür wurden mehrere «Punktsysteme» entwickelt. Doch dies wird von Pädiatern seit Jahrzehnten so ge- macht – zumindest kenne ich es so. Hier also nichts we- sentlich Neues. Trotzdem ist diese Sensibilisierung sehr sinnvoll: zum einen als Hilfe für Kollegen am Anfang des Berufsweges, zum anderen um zu verhindern, dass bei jedem Halskratzen der Strep Schnelltest geholt wird und bei negativem Abstrich auch noch das Blutbild/CRP be- müht werden (und womöglich bei auch hier unauffälli- gem Ergebnis trotzdem ein Co-Amoxi verordnet wird…). Wurde aber nach strenger Indikationsstellung (s. o.) Di- agnostik durchgeführt und der Verdacht einer Strepto- kokkeninfektion bestätigt sich, dann soll man gemäss der neuen Empfehlungen (erneut) überlegen, ob eine antibiotische Therapie durchgeführt werden soll. Dieser Teil der «Neuerung» führt zur Verunsicherung der Kol- leginnen und Kollegen und ganz bestimmt auch bei den Patienten. Insbesondere, wenn man den Eltern ein Anti- biotikumrezept mitgibt (wie im entsprechenden Artikel angeregt) und ihnen die Entscheidung (und somit auch die Verantwortung) hinsichtlich der allfälligen Therapie überträgt. Ich denke, wir müssen uns vor der Diagnostik überlegen, ob wir behandeln würden und bei Bejahung dieser Frage dem anschliessenden Ergebnis auch folgen (sonst bräuchten wir den Abstrich oder gar BB gar nicht)!  Auf jeden Fall bleiben für mich etliche Fragen offen, hierzu siehe bitte das hierzu gehörige Interview mit Christoph Berger und Philip Tarr. Die neuen Richtlinien der symptomatischen Streptokok- kenbehandlung ohne Antibiotika bringt einen dazu, Routineabläufe zu ändern und umzudenken. Das war seit dem Beginn meiner Praxistätigkeit ja mehrmals der Fall und tagtäglich richte ich mich mehr oder weniger je nach individuellem Fall nach allerhand Richtlinien. Bei der Otitisbehandlung entscheide ich ja seit Jahren an- hand von Befund, Dauer der Krankheit und Allgemein- zustand des Kindes über die antibiotischeTherapie. Ich sehe nur einen Unterscheid. Die Otitis ist per se nicht ansteckend. Natürlich dienen die neuen Richtlinien, die Streptokokkenhysterie in Schule und Kindergärten zu mindern, aber der Entscheid in der Sprechstunde, nicht zu behandeln, ist nicht ganz einfach zu erklären und zeit­ intensiv. Vor einigen Monaten zeigte mir eine Mutter anlässlich der Vorsorgekontrolle des Bruders einen Aus- schlag bei ihrem älteren Kind. Ein klassischer Scharlach. Da der Knabe spielte und nur wenig krank wirkte, ent- schied ich mit der Mutter, nur symptomatisch zu behan- deln. Einige Tage später war der Bruder wegen Fieber eingeschrieben und der Vater erschien zur Konsultation. Die Mutter sei verhindert, da sie im Spital sei mit einem Peritonsillarabszess. Natürlich war der Befund und der Abstrich beim fiebrigen Kind positiv für Streptokokken. Ein Fall macht keine Statistik, aber müssen wir wirklich nicht mit mehr Komplikationen rechnen (ich rede nicht von rheumatischem Fieber oder PANDAS), auch im Um- feld der Kinder? Ich konnte nämlich dieser Mutter nicht sagen, ob die Richtlinien auch für Erwachsene gelten. Was ist mit den krankheitsbedingten Arbeitsausfälllen und Erwerbsausfallkosten für den Arbeitgeber der El- tern, wenn sie sich beim Kind vermehrt anstecken wer- den, wenn wir nicht mehr behandeln? Neue Empfehlungen für die Handhabung von Streptokokkeninfektionen: Vier Meinungen aus der Praxis Einerseits: Andererseits: DR. MED. JAN CAHLIK, VORSTANDSMITGLIED KINDERÄRZTE SCHWEIZ, AFFOLTERN A. A. Korrespondenzadresse: b.j.cahlik@datazug.ch DR. MED. ROLF TEMPERLI, EHRENMITGLIED KINDERÄRZTE SCHWEIZ, LIEBEFELD Korrespondenzadresse: temperli-rossini@bluewin.ch DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM, VORSTANDSMITGLIED KINDERÄRZTE SCHWEIZ, LEITER REDAKTIONS- KOMMISSION, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch DR. MED. STEFANIE GISSLER WYSS, MITGLIED REDAKTIONS- KOMMISSION, NEUENDORF Korrespondenzadresse: s.gissler@hin.ch

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