KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2019

K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 58 FÜR S I E GELESEN 03 / 2019 W as in diesem Heft bisher noch nicht themati- siert wurde, sind die psychologischen Auswir- kungen und Folgen von Sport, insbesondere von Leis- tungssport. Dass 20 Stunden intensiven Trainings pro Woche körperliche Effekte zeigen, scheint jedem klar. In der vulnerablen Phase der Teenagerzeit, in die Kin- derleistungssport meist fällt, können der oft enor- me Druck, die hohen Erwartungen von Trainern, El- tern und auch von den Athleten selber, der Verlust von weitgehend selbstbestimmtem Alltag mit einer star- ken Fokussierung auf das eine sportliche Ziel jedoch auch auf der psychologischen und Entwicklungsebe- ne einschneidende Veränderungen zur Folge haben. Was passiert mit Kindern, die dem nicht gewachsen sind? Wer erkennt, wann es zu viel ist? Wer entschei- det, dass es Zeit ist zu reduzieren oder auszusteigen? Was ist richtig, was ist falsch? Fragen, die nicht ein- fach zu beantworten sind. Fragen, die auch für Ariella Kaeslin nicht einfach zu beantworten waren. Ihre Ge- schichte ist sicherlich ein extremes Beispiel dafür, was im Spitzensport mit einem Kind und einer Jugendli- chen passieren kann. Aber sie ist wahr und regt zum Nachdenken an.  Das Buch schreibt einerseits die «äussere» Biogra- fie eines Mädchens, das schon mit vier Jahren als Tur- nerin aufgefallen war. Sie hatte einen unbändigen Bewegungsdrang und Willen und wurde von ihrer Trainerin gefördert und gefordert. Eine Gratwande- rung zwischen hartem Training, Gesundheit, Erhalten der Freude am Sport und Anspornen zu Ehrgeiz und Höchstleistungen. Der Weg führte über das Sportleis- tungszentrum Magglingen an die Weltspitze im Frau- enkunstturnen und nach unsicherem Suchen und Ringen aufgrund einer Erschöpfungsdepression zum Rücktritt vom Leistungssport und dem Kampf zurück in ein «normales» Leben. Der Text zeigt gerade hier auch die «innere» Biografie. Er beschreibt die Angst vor den Trainings, davor, dem strengen und ungerech- ten Trainer nicht zu genügen, sich selber nicht zu ge- nügen, zu versagen. Er analysiert die Verunsicherung und das Gebrochenwerden einer Jugendlichen durch den enormen Druck, der in diesem System von ver- schiedenen Seiten aufgebaut wird. Er zeigt auf, wie vieles auf der Strecke bleibt, wenn Kinder/Jugendliche diesen Weg einschlagen – auch wenn sie dies von gan- zem Herzen wollen.  Das Buch bewegt. Es ist keine Abrechnung, ist nicht anklagend oder verurteilend, aber oft verstörend direkt und ehrlich. Es ist klar und gut leserlich geschrieben und wird eingefasst von einem Vorwort an Ariella Kaes- lins erste Trainerin und einem Nachwort an ihre begab- te Turnschülerin. Die oben aufgeführten Fragen blei- ben zum Teil unbeantwortet, denn auch Ariella Kaeslin nimmt für sich «nicht in Anspruch zu wissen, was rich- tig ist und was falsch».  Ergänzt wird das Buch durch drei Interviews, die Ari- ella Kaeslin geführt hat: mit Rapperin Steff la Cheffe, Topmodel Nadine Strittmatter und Ex-Boxerin Dina Bur- ger. Alle drei Frauen haben auf ihre Art teilweise ähnli- che Erlebnisse und Erfahrungen gemacht.  Aus meiner Sicht ein wirklich eindrückliches Buch und allen, die Leistungssportler betreuen, sehr zu empfeh- len. ■ DR. MED. NADIA SAUTER OES, WINTERTHUR, MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION Korrespondenzadresse: nadia.sauter@oes.ch «Ariella Kaeslin» – Leiden im Licht Die wahre Geschichte einer Turnerin Von Christof Gertsch, Benjamin Steffen Verlag Neue Zürcher Zeitung, ISBN 978-3-03810-027-0

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