KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2019

02 / 2019 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 45 ren wir uns auf die Haupthandlung. «Was macht denn der Gorilla da?» muss ich meistens fragen. Hier sehe ich etwas auf den Wortschatz der Kinder. Oft heisst es «De nimmt das» «De hed da die Schlüssel» – das Wort «stehlen», «wegnehmen» etc. ist eher selten vorhanden, entweder bei Kindern, die das Buch kennen, oder bei Kindern, die sowohl in Sprache wie in der Wahrnehmung bereits etwas fortgeschrittener sind. Auf die Frage «Merkt das der Mann?» – kriege ich selten eine klare Antwort («Theory of mind») und die «Warum er es nicht merkt-Frage» ist erst mit sechs Jahren sinnvoll. Dann blättern wir weiter. Manchmal werden die Kinder ungeduldig und blättern rasch durch, nur die groben Handlungsabläufe werden, wenn überhaupt, realisiert. Erst bei den zwei schwarzen Bildern gibt es einen Stopp! Das ist ungewöhnlich – hier steht ein Text, aber was meint er ? – und dann diese Augen! Meistens müssen da die Kinder staunen oder lachen! Ja eben, die gehören zu dieser Frau auf der nächsten Seite! Das verstehen die meisten Kinder mit vier Jahren (und auch schon mit zwei Jahren versteht das meine Tochter sehr gut!). Die Kinder aber, die sich auf das Buch einlassen, mit denen kann ich dann noch viele Details ansehen: Wie der Affe rauskommt, wie er weiss, welcher Schlüssel wohin passt? Welche Farben es denn sind!? Für mich ist mit vier Jahren wichtig, dass die Kinder die Handlung als solche begreifen, dass sie den Bezug zwischen den Bildern machen können und dass sie in der Lage sind, die Geschichte in kurzen Sätzen zu erzählen oder manchmal auch erst nach dem Durchsehen wiederzugeben. Ich kann sehr gut den Wortschatz, die Syntax, die visuelle Wahrnehmung, Sprachproduktion und Redefluss, aber auch Phantasie und magisches Denken der Kinder, prüfen, natürlich auch die bekannte «Theory of mind», die Möglichkeit, sich in einen anderen hineinzudenken.  Mit sechs Jahren gibt es mehr Austausch! Das Buch liegt von Anfang auf dem Tisch. «Du kennsch es noch vom letschte Mal?» Ja, häufig erinnern sich die Kinder. Manchmal auch herablassend, so «Das kenn ich doch schon» meinend, oder fasziniert, «weil es doch da diese speziellen Seiten gibt», – zu denen rasch hingeblättert wird. Jetzt geht es um mehr als nur ums Erzählen. Hier kommen die Warum-Fragen. Und die kleineren Details, die Fragen zur Magie und natürlich immer zum Schluss die Frage von «Peter und der Wolf»: «Und was wäre, wenn...?» – Ja, was wäre denn passiert, wenn das Buch weitergehen würde, am nächsten Morgen, wenn alle aufwachen... Ich kann in diesen wenigen Minuten mehr sehen, als nur die Items alleine aufzeigen würden. Faszination der Betrachtung und des Erfassens, Interesse an Abläufen und um diese auch zu verstehen. Magische Realität oder bereits nüchternes Lesen der wenigen Worte! Freude an faszinierender Bildsprache oder repetitives Wiedergeben «gelernter Inhalte». Manchmal habe ich einfach Freude, mit den Kindern in dieser Geschichte zu verweilen, oft ist es eine gute Gelegenheit, Eltern zeigen zu können, wie schön Bücherlesen mit Kindern sein kann. Ich gebe dann auch zum Schluss der Kontrolle einen entsprechenden Kommentar dazu, wie ich mich gefühlt habe beim Lesen, aber auch wie ich das Kind in der Interaktion erlebt habe. Ja, auch dies gehört für mich zur VorSORGE für das Kind! Und dann muss ich das Buch leider zu schnell wieder weglegen, weil ja meine Zeit begrenzt ist – aber die Gedanken über die gefühlte Intensität der Begegnung mit dem Kind fliegen weiter, wie der Ballon, welcher sich aus der Geschichte herausbewegt hat. ■

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