02 / 2019 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 27 zu unterscheiden. Das mentale Lexikon, auf das wir jederzeit zurückgreifen können, wächst stetig, denn jedes Buch enthält neue Objekte und neue Bilder, die ein Kind wahrnehmen und zuordnen muss, in jedem Buch gilt es sich neu zu orientieren. Die Zeit, die Kinder dafür brauchen, wird häufig unterschätzt, weil wir Erwachsene mit den Konventionen von Zeichen und Bezeichnetem bereits vertraut sind. Sich viel Zeit einzuräumen, gilt auch für den Dialog beim gemeinsamen Betrachten, Erzählen: Die Sprachentwicklung wird dann nachhaltig vorangetrieben, wenn Kinder selbst aktiv werden, wenn sie zeigen und fragen können und wenn Erwachsene Interesse an ihren Überlegungen haben. So kann es durchaus sein, dass ein harmloser Klassiker wie Jean de Brunhoffs «Babar» auf den Schrank gepackt werden muss. Schliesslich ist die totgeschossene Elefantenmutter auf der ersten Seite nicht jedermanns Sache, auch wenn sie der notwendige Auslöser für die Geschichte ist. Andererseits kann ein Bilderbuch wie das eben erschienene «Mein Jimmy» von Werner Holzwarth und Mehrdad Zaeri, das den Umgang mit dem Tod des besten Freundes thematisiert, sowohl für betroffene als auch für nicht betroffene Kinder anregend sein. So können Gesprächsfäden weit über das eigentliche Bilderbuchgeschehen hinausführen, hinein in die Lebenswelt des Kindes und es so stärken für den Umgang mit schwierigen Aspekten unseres Lebens. Alle Begegnungen mit Geschichten, auch in Sachbilderbüchern, eröffnen neue Perspektiven auf die Dinge dieser Welt sowie auf individuelle Ereignisse und Charaktere. Sie geben Kindern schon früh die Möglichkeit auszudrücken, was auffällt, was gefällt und nicht gefällt. Darüber hinaus erleichtern die kognitiven Erfahrungen, die Kinder im Gespräch und beim Anschauen von Bilderbüchern machen, den Einstieg ins Lesenlernen in der Schule und unterstützen die Lesemotivation. Anregungen für die Praxis In der ärztlichen Praxis lässt sich dieses Geschichtenpotenzial vielfältig nutzen. Dabei sollte nicht zwingend der utilitaristische Gedanke im Zentrum stehen, sondern das Moment der Lesefreude. Wartezimmer können zum Ort werden, wo Familien niederschwellig mit Bilderbüchern in Kontakt kommen, vorausgesetzt es liegt dort ein attraktives Angebot für individuelle Entdeckungen bereit. Dazu zählen: ■ Bilderbücher ohne Text. Sie können unabhängig von der Herkunftssprache genutzt werden. Zum Beispiel Thé Tjong-Khing «Die Torte ist weg!», eine wilde Verfolgungsjagd, die sich erst durch genaues Schauen erschliesst, aber einen auch vergnügliche Einzelseiten geniessen lässt. ■Humorvolle Reihengeschichten aus dem Pappsegment, das in den letzten Jahren richtig attraktiv geworden ist. Zum Beispiel Susanne Strassers «Der Wal nimmt ein Bad». ■ Freche Kindercomics wie «Kleiner Strubbel» können sowohl zusammen als auch alleine gelesen werden. ■Vorlesebücher mit kurzen Geschichten. Zum Beispiel Max Bolligers neu aufgelegter Klassiker «Stummel». ■ Sachbilderbücher. Zum Beispiel Stina Wirséns «Was blutet denn da?» oder Daniela Kulots gereimtes Körperentdeckungsbuch «Ich auch!». Vielfalt, eine sorgfältige Auswahl sowie die regelmässige Aktualisierung der Bücher zeichnen ein überzeugendes Bilderbuch-Sortiment in Wart- und Sprechstundenzimmer aus. Spannende Bücher, in denen kindliche Entwicklungsaufgaben thematisiert werden, und die ein Gesprächsangebot in der direkten ärztlichen Beratung darstellen können, gibt es zahlreiche. Der Artikel von Sabine Zehnder nimmt sie im aktuellen Heft auf. Und der Elternratgeber zur «Literalen Förderung in der Familie» in 14 Sprachen stellt ein einfaches, bildbasiertes Instrument für die Kommunikation mit Eltern dar. ■ PRIMÄRLITERATUR: – Bailly, Pierre/Fraipont, Céline. Kleiner Strubbel. Reprodukt 2014fff – De Brunhoff, Jean. Die Geschichte von Babar dem kleinen Elefanten. Diogenes 2005 – Junge, Norman/Jandl, Ernst. Fünfter sein. Julius Beltz 2018 – Kulot, Daniela. Ich auch! Gerstenberg 2019 – Strasser, Susanne. Der Wal nimmt ein Bad. Peter Hammer 2018 – Tjong-Khing, Thé: Die Torte ist weg! Moritz 2006 – Wirsén, Stina. Wer blutet denn da? Klett Kinderbuch 2019 – Zaeri, Mehrdad/Holzwarth, Werner. Mein Jimmy. Tulipan 2019 SEKUNDÄRLITERATUR: – Rau, Marie Luise. Literacy – Vom ersten Bilderbuch zum Erzählen, Lesen und Schreiben. Haupt 2007 LINKS: www.sikjm.ch (u.a. Medientipps und Flyer «Leseförderung in der Familie» in 14 Sprachen)
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