FORTB I LDUNG 02 / 2019 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 26 «Tür auf, einer raus, einer rein, vierter sein…» So beginnt Ernst Jandls Gedicht «fünfter sein» von 1968. In dem darauf basierenden Bilderbuchklassiker von Norman Junge sitzen fünf leicht lädierte Spielzeugtiere nebeneinander auf Holzstühlen im Wartezimmer. Reihum verschwinden sie und kommen geflickt zurück. Und am Ende wird klar: Hinter der Tür wirkt ein freundlicher Herr Doktor. Dass dieses Bilderbuch in keinem Wartezimmer einer Kinderarztpraxis fehlen sollte, versteht sich von selbst. Und dies, obwohl das Gedicht mitnichten für Kinder geschrieben wurde. Im 1998 erstmals erschienenen Buch bringt der Illustrator Junge die kindliche Anspannung vor einem Arztbesuch in fröhlich-zarten Bildern zum Ausdruck und lässt zusammen mit Jandls prägnantem Text viel Raum für eigene Überlegungen, Erfahrungen und Entdeckungen. Das ist zweifellos ein zentrales Kriterium für ein überzeugendes Bilderbuch. Qualität – ein vielfältiges Konzept Die Frage, was ein gutes Bilderbuch ausmacht, ist so alt wie die Gattung selber. Antworten darauf sind geprägt vom jeweiligen historischen Kontext, den vorherrschenden pädagogischen Maximen, erzieherischen Überlegungen, die je nach Verwendungskontext stärker oder schwächer zum Ausdruck kommen. Schliesslich ist Kinderliteratur immer auch ein Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft. Ein absolutes «Gut» bei Kinderbüchern gibt es nicht. Man muss immer auch überlegen, was man mit einem Buch bezwecken will: Geht es um die Vermittlung von Wertvorstellungen oder um die Verarbeitung von problematischen Situationen? Geht es um Unterhaltung oder um literar-ästhetische Bildung? Je nach Fragestellung können unterschiedliche Kriterien in den Vordergrund rücken. Für alle Verwendungszwecke aber helfen folgende Fragestellungen: ■ Plot: Vermittelt die Geschichte eines Bilderbuches Bezüge zur Lebenswelt von Kindern, sowohl was die äussere Handlung wie auch die Schilderung von Gefühlen betrifft? Was wird erzählt und wie wird es erzählt? Wie steht es mit produktiven Irritationen? Geht es um simple Belehrung? Wird die Fantasie angeregt? ■ Sprache: Ist sie bildhaft, anschaulich oder werden abgegriffene Sprachbilder und wertende Adjektive verwendet? Entspricht sie dem Alter der jeweiligen Zielgruppe, ohne Langweile zu produzieren? Passt der Sprachstil zum Inhalt der Geschichte? ■ Figurenebene: Wirken die handelnden Figuren authentisch? Entwickeln sie sich oder erscheinen sie typisiert oder klischiert? Bieten sie die Möglichkeit, sich emotional mit ihnen auseinanderzusetzen, sich zu identifizieren oder zu distanzieren? ■ Illustrationen: Wie setzen die Bilder Stil und Farbe ein? Wie steht es um den bei Bilderbüchern fundamentalen Bild-Text-Zusammenhang: Sind die Bilder nur Beigabe ohne eigene Funktion oder erweitern sie den Text um neue Aspekte, ja widersprechen sie diesem sogar? Gerade jüngere Kinder sind auf die Bilder fokussiert, Erwachsene schenken ihnen häufig wenig Aufmerksamkeit. Eine Art Selbstüberlistung für textfixierte Erwachsene können textlose Bilderbücher darstellen: Hier ist die Ausgangslage für das Ko-Konstruieren der Geschichte für alle gleich. ■Materialität: Machen das Format eines Buches oder interaktive Elemente wie Klappen, Löcher oder Fühlteile Sinn und können Kinderhände mit ihnen umgehen? All diese Kriterien beeinflussen die Rezeption eines Bilderbuches. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass Geschichten immer in einem bestimmten Moment für ein bestimmtes Kind gut und richtig sind. Das Kind muss Interesse an der Geschichte haben und sich mit ihr in Verbindung bringen können. Dann erst wird es sich auf sie einlassen und etwas aus ihr für sich mitnehmen können. Erwachsene müssen diese kindlichen Lesebedürfnisse respektieren. Nur so kann das Potenzial eines Bilderbuches wirklich genutzt werden. Der Dialog zählt Was beim Anschauen von Bilderbüchern zwischen den Betrachtenden und dem Buch an Interaktion entstehen kann, ist erstaunlich. Schon sehr junge Kinder lernen über einfache Pappbücher, das Abbild eines Gegenstandes, seine Repräsentation, vom wirklichen Objekt Gute Geschichten – starke Kinder BARBARA JAKOB, SCHWEIZERISCHES INSTITUT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIEN, ZÜRICH Korrespondenzadresse: barbara.jakob@sikjm.ch
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