KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2019

FORTB I LDUNG 01 / 2019 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 42 Geburten bei minderjährigen Mädchen sind äusserst medienwirksam und werfen bei den Lesern Fragen auf. Journalisten fordern sofort detaillierte Informationen ein und gelangen an die Fachleute. Gynea, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie, wird beispielsweise gefragt: «Wie ist es möglich, dass 13-jährige schon schwanger werden können?» «Was sind die Hintergründe dazu?» Argumentiert wird zudem, dass es heutzutage doch gute und allgemein verfügbare Verhütungsmittel gibt. Auch wird betont, dass die Sexualaufklärung früh in Familie und Schule erfolgt.  Dieser Beitrag legt den Fokus auf die Bedeutung der Kinderärztinnen bei der Erfassung von Mädchen, die zu frühen Schwangerschaften prädestinieren. Teenagerschwangerschaften weltweit Die Statistiken in der Schweiz (Bundesamt für Statistik und WHO) definieren Teenagerschwangerschaften (TS) als Schwangerschaften, die bis zum 20. Geburtstag (–19 Jahre) eintreten. In Deutschland wird statistisch die Grenze bei der Mündigkeit, das heisst 18. Geburtstag, gesetzt.  Gemäss WHO-Statistik (Februar 2018) werden weltweit jedes Jahr 19 Millionen Kinder von 15–19 jährigen Adoleszentinnen geboren, wovon 2,5 Mio. dieser Mütter unter 16 Jahre alt sind. Insgesamt werden 23 Mio. Teenager schwanger, davon sind 2 Mio. unter 16 Jahre alt, die Interruptionsraten sind somit tief bzw. die Dunkelziffer hoch. Diese Zahlen treffen primär für Entwicklungsländer zu. Die relative Geburtenrate (TS zu allen Geburten) unterscheidet sich auf den Kontinenten deutlich. Sie beträgt in Westafrika 115/1000, in Lateinamerika 65/1000 und Südostasien 45/1000 Lebendgeburten. Zudem sind TS in ländlichen Gebieten dreimal häufiger. Dies ist die Folge von Armut, fehlenden Bildungsmöglichkeiten und Arbeitslosigkeit. Der Grossteil dieser Mädchen heiratet aus sozialen und traditionellen Gründen früh. Ein medizinischer Zugang zu Kontrazeption besteht nicht. Nicht selten werden die Mädchen mit deutlich älteren Partnern zwangsverheiratet; es besteht ein deutliches Machtgefälle in der Partnerschaft. Sexuelle Gewalt inner- und ausserhalb der Ehe ist zudem nicht zu unterschätzen! Auch in Europa waren in den letzten Jahrhunderten frühe Heirat und Schwangerschaft üblich. Der erste gesellschaftlich legitimierte Geschlechtsverkehr war an die Ehe gekoppelt. Mit der Emanzipierung, Zugang zu Wissen und verbesserter Ausbildung, toleranterer Sexualmoral und Einsatz von Verhütungsmitteln forderten die Frauen zunehmend ihr Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität ein. Im Zuge dieser gesellschaftlichen Entwicklung wurde der Geschlechtsverkehr vor der Heirat mehr und mehr akzeptiert.  Auch verlängerten sich die Entwicklungsphasen der Adoleszenz. Früher folgte nach der Schule der direkte Einstieg in die Arbeitswelt, dann Ehe, Schwangerschaft und Familienarbeit. Die Adoleszenz war im Alter von 18–20 beendet, heute dauert die Phase der Spätadoleszenz bis 25 Jahre oder länger! (Abb. 1)  Erstaunlicherweise zeigen auch fortschrittlich entwickelte Länder wie die USA sehr hohe Schwangerschaftsraten bei Jugendlichen: Im Jahr 2016 haben in den USA 210000 Jugendliche (<20 Jahre) ein Kind geboren. Seit 1990 hat sich diese Geburtenrate mehr als halbiert (1990: 520000 Geburten). Die US-amerikanische Abbruchrate hat sich in den letzten Jahrzehnten ebenfalls halbiert, ist aber immer noch sehr hoch mit 54/1000.  In der Schweiz sind Schwangerschaftsabbrüche und ausgetragene Schwangerschaften bei Teenagern weltweit statistisch am tiefsten:  Im Jahr 2016 waren 439 Geburten bei unter 20-jährigen zu verzeichnen, dies entsprach 0,5% aller Lebendgeburten. 2002 betrug die Zahl der Lebendgeburten bei unter 20-jährigen noch 775, hat sich also innerhalb von 14 Jahren knapp halbiert.  Die Interruptionsrate bei unter 20-Jährigen liegt in der Schweiz aktuell bei 3,5/1000, vor einigen Jahren noch bei 6/1000. Bei den gleichaltrigen Migrantinnen konnte aber keine Reduktion der Interruptionsrate verzeichnet werden. Wahrscheinliche Gründe dafür sind fehlender Zugang zu ärztlicher Verschreibung von Verhütungsmitteln, schlechtere Schulbildung, fehlende Sexualaufklärung und sozioökonomische Faktoren (Verhütungsmittel sind relativ teuer!). Interruptiones CH, Statistik BFA separat USA 54/1000 Canada 28/1000 Schweden 29/1000 Spanien 23/1000 England/Schottland 46/1000 Schweiz 3,5/1000 Migrantinnen CH 6/1000 Unerwünscht oder ungeplant? Der Grossteil der TS (>90%) sind ungeplant. So brauchten 50% der schwangeren Teenager in den USA keine Verhütung. Folgende Gründe werden genannt: 24% weil es der Partner nicht wollte, 31% weil sie glaubten, (zu diesem Zeitpunkt) nicht schwanger werden zu können, 13% weil sie keinen Zugang zu Verhütungsmittel hatten und 22% gaben Gleichgültigkeit an. Bei 17% der Jugendlichen handelte es sich um eine wiederholte SS!  Risikofaktoren für eine TS sind primär schwierige psychosoziale Bedingungen. Eine tiefe Schulbildung der minderjährigen Mutter als auch des Vaters trägt das RiSchwanger – was nun? Was war davor und was kommt danach? DR. MED. RENATE HÜRLIMANN, FMH KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, KINDER- UND JUGENDGYNÄKOLOGISCHE SPRECHSTUNDE UNIVERSITÄTSKINDERKLINIKEN ZÜRICH UND KINDER- UND JUGENDPRAXIS DÜBENDORF Korrespondenzadresse: r.huerlimann@hin.ch

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