FORTB I LDUNG 01 / 2019 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 32 Fehlbildungen im Bereich des Genitaltraktes betreffen nur wenige Mädchen und kommen in der Gesamtbevölkerung je nach Quelle mit einer Prävalenz von 0,1–5% vor [1]. Die Ausprägung ist sehr unterschiedlich und kann sowohl das äussere als auch das innere Genitale betreffen. Mit den regelmässigen Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt werden Veränderungen im Bereich der sekundären Geschlechtsmerkmale meist frühzeitig entdeckt. Die ersten Vorsorgeuntersuchungen im Säuglingsalter bieten sich an, den Eltern die genaue Anatomie zu erklären. Zusätzlich helfen die Kenntnisse des Ablaufes der Pubertätsentwicklung, die Befunde im Verlauf zu interpretieren. 1. Grundlagen 1.1 Embryologie Das chromosomale Geschlecht wird normalerweise bei der Konzeption mit dem Karyotyp festgelegt. Es bestehen primär indifferente Gonaden. Bei beiden Geschlechtern finden sich zwei Gangsysteme auf jeder Seite, bestehend aus Ductus mesonephricus (Wolffscher Gang) und Ductus paramesonephricus (Müller-Gang). Verschiedene Gene wie das SRY, WT1, WNT4, SOX9 u. a. induzieren die komplexe Entwicklung der äusseren und inneren Geschlechtsorgane. Ist ein Y-Chromosom mit dem SRY-Gen vorhanden, differenzieren sich die Gonaden ab der 6. bis 8. Woche zu Hoden, die in den Leydig- und Sertolizellen Testosteron bzw. das Anti-Müller- Hormon (AMH) produzieren. Testosteron stabilisiert die Wolff-Gänge, aus denen sich die inneren männlichen Genitalien entwickeln, AMH induziert die Rückbildung der Müller-Gänge. In Abwesenheit eines Y-Chromosoms bzw. ohne Testosteronwirkung entwickeln sich weibliche Geschlechtsorgane. Wenn das AMH fehlt, bildet sich der Ductus mesonephricus (Wolffscher Gang) mit seinen Tubuli zurück und aus dem Ductus paramesonephricus (Müller) entstehen die künftigen Tubae uterinae, der Uterus und der kraniale Teil der Vagina. Diese Entwicklungsschritte sind eng mit der Ausdifferenzierung des Nierensystems verbunden [2, 3]. Neben chromosomalen Störungen führen genetische, anatomische, biochemische und Rezeptordefekte zu einer Vielzahl an möglichen Fehlbildun- gen (Abb. 1). Auch das äussere Genitale zeigt sich primär indifferent mit zwei innen liegenden Genitalfalten, 2 Geschlechtswülsten und mittig einem Genitalhöcker. Bei Abwesenheit von Androgenen bilden sich aus den Geschlechtsfalten die Labia minora, aus den Wülsten die Labia majora und aus dem Geschlechtshöcker die Klitoris. Der Sinus urogenitalis bildet die Harnröhre mit Harnblase und den unteren Anteil der Scheide sowie die Bartholini’schen Drüsen. Die Gänge der Harnröhre und der Vagina trennen sich und enden in das Vestibulum vaginae (Abb. 2). 1.2. Pubertätsbeginn und Tanner-Stadien In den ersten Wochen nach der Geburt steht das weibliche Genitale noch unter dem Einfluss der mütterlichen Hormone. In dieser Zeit findet sich der typische Fluor albus. Durch den Abfall der mütterlichen Östrogene kann es zu physiologischen Entzugsblutungen kommen. Ab dem 2. Lebensjahr bis zum Einsetzen der Pubertät befinden sich die Mädchen in der hormonellen Ruheperiode. Mit der einsetzenden Östrogenproduktion kommt es zur Ausdifferenzierung der äusseren und inneren Geschlechtsmerkmale. Der Pubertätsbeginn ist durch viele Faktoren beeinflusst. Genetisch spielt der KISS1R (früher GPR 54) sowie zahlreiche weitere Gene eine Rolle, aber auch der Ernährungszustand, sportliche Aktivität, Grunderkrankungen sowie die ethnische Zugehörigkeit beeinflussen den Zeitpunkt zusätz- lich. Um Fehlbildungen in Bezug auf den Entwicklungsstand interpretieren zu können, ist es essenziell, die Tannerstadien und ihren normalen physiologischen Ablauf zu kennen (siehe Abb. 3). Bei Mädchen sind die Thelarche (beginnendes Brustwachstum) oder die Pubarche (beginnende Schambehaarung) die ersten Zeichen der beginnenden Pubertätsentwicklung. Die Menarche setzt im Durchschnitt 2,2 Jahre nach Einsetzen der Thelarche und 2,7 Jahre nach Einsetzen der Pubarche ein. Ca. ½–1 Jahr vor der Menarche ist ein deutlicher Fluor albus zu beobachten. Die Stadien bis zu den voll ausgereiften sekundären Geschlechtsmerkmalen werden nach Marshall und Tanner eingeteilt. Genitale Fehlbildungen beim Mädchen Beispiele aus der Kinder- und Jugendgynäkologischen Sprechstunde DR. MED. KERSTIN RUOSS, OBERÄRZTIN KINDER- UND JUGENDGYNÄKOLOGIE UND NOTFALLSTATION, UNIVERSITÄTS-KINDERSPITAL ZÜRICH Korrespondenzadresse: kerstin.ruoss@kispi.uzh.ch Abb. 1: Entwicklung der indifferenzierten Gonadenanlage [2].
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