KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 51 03 / 2018 FÜR S I E GELESEN Entwicklungsbegleitung in der Praxispädiatrie Je lauter Ärztenetzwerke ihre pädiatrische Notfallver- sorgung anpreisen und Kinderkliniken ihre ambulanten Angebote ausweiten, desto mehr suchen Eltern mit ih- ren Kindern eine kontinuierliche Begleitung und Bera- tung in der Praxispädiatrie. Da bei einer umfassenden Entwicklungsbegleitung neben medizinischen immer auch erzieherische und schulische Fragen zur Diskussion stehen, wird von den Kinderärzten ein überzeugendes Konzept der kindli- chen Entwicklung erwartet. Während jene, die vor 30 Jahren in die Praxispädiatrie eingetreten sind, noch Mühe hatten, zu diesem Wis- sen zu gelangen, sieht sich die heutige Generation ei- ner unüberschaubaren Fülle von Erziehungsliteratur ge- genüber. Das erschwert die Orientierung und fokussiert den Blick leicht auf Verhaltensweisen, die von der Schu- le und der Gesellschaft besonders stigmatisiert werden. Eine herausragende Stellung in der Erziehungslitera- tur haben die Bestseller von Remo Largo. Wer kennt nicht seine «Babyjahre» und die nachfolgenden Kin- der-, Schüler- und Jugendjahre? Sie basieren alle auf den empirischen Daten der Zürcher Longitudinalstudi- en und der jahrzehntelangen Erfahrung des Autors in der entwicklungspädiatrischen Poliklinik. Bücher haben ihre eigene Geschichte Das gilt ganz besonders für die «Babyjahre», die meh- rere Überarbeitungen erlebt haben und in 10 Sprachen (inklusive Russisch und Chinesisch) übersetzt worden sind. Bücher, deren Auflagenzahlen die Millionenhürde überwunden haben, erhalten den Status einer «Bibel», teilen aber auch deren Schicksal: Sie stehen zwar in je- dem Bücherregal, werden aber oft nur auszugsweise gelesen. «Das passende Leben» ist der Titel des jüngsten Bu- ches, in welchem Remo Largo den Bogen von der Kind- heit bis ins Erwachsenenalter spannt und das menschli- che Leben als Entwicklungsphänomen deutet, das dem Fit-Prinzip folgt. Die derzeit laufende Überarbeitung der «Kinderjahre» profitiert von den mehrfach überarbeiteten «Babyjahren» ebenso wie von den philosophischen Einsichten dieses abrundenden Werkes. Ich wurde vom Autor eingeladen, das Manuskript zur Neufassung der «Kinderjahre» zu lesen und zu kom- mentieren. Je weiter ich mich auf diese Lektüre einge- lassen habe, umso mehr wuchs in mir das Bedürfnis, dieses anfangs November erscheinende Buch allen zu empfehlen, die in der Praxispädiatrie tätig sind. Am Wesen des Kindes orientiert Wer in «Kinderjahre» ein Rezept sucht, das es ihm er- laubt, bei bestimmten Verhaltensmustern eine ADHS- oder eine Autismus-Diagnose zu stellen, der wird das Buch schnell beiseitelegen. Er wird auch vergeblich nach «exekutiven Funktionen» suchen, die sich einem bestimmten Hirnareal zuordnen und gezielt trainieren lassen. – Nein, es ist hier nicht von Pathologie, sondern von der erstaunlichen Variationsbreite der Norm die Rede; es geht um das Wesen des Kindes und um die Gesetzmässigkeiten der Entwicklung. Das Herzstück ist dabei das Fit-Prinzip: Jedes Kind ist bestrebt, mit seinen Grundbedürfnissen, Fähigkeiten und Vorstellungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Kinder las- sen sich nicht beliebig nach den Vorstellungen der Er- wachsenen formen! Das Dilemma des Kinderarztes In einer Gesellschaft, die zunehmend von Förderwahn und Leistungsstreben geprägt ist, geraten immer mehr Kinder unter Druck und erscheinen früher oder später in der kinderärztlichen Sprechstunde. Im Bestreben den Misfit zu beheben geraten wir als Kinderärzte oft in ein Dilemma. Wollen wir der Schule und den Eltern die Ei- genheiten des Kindes erklären und für mehr Verständ- nis plädieren oder das angeprangerte Verhaltensmuster mit einer medizinischen «Diagnose» versehen und eine «Therapie» in die Wege leiten? In dieser Ambivalenz sollten wir uns bewusst sein, dass Diagnosen im Bereiche der Entwicklungspädiatrie meis- tens Spektrumdiagnosen und nicht kategoriale Diagno- sen sind. Sie entsprechen oft mehr den Erwartungen der Krankenkasse und der Schule als jenen des Kindes und seiner Eltern. Etwas überspitzt gesagt: Kinder brauchen keine Diagnosen, sondern Verständnis und Anerkennung! Dagegen mag man einwenden, Diagnosen und Thera- pien seien immer dann angezeigt, wenn einer Verhaltens störung Krankheitswert zukommt und Diagnosen könn- Remo Largos «Kinderjahre» – eine Orientierungshilfe für die Praxispädiatrie DR. MED. ARNOLD BÄCHLER, PRAXISPÄDIATER, ST. GALLEN Korrespondenzadresse: arnold.baechler@hin.ch Ich habe die wunderbare Erfahrung gemacht, dass Eltern keinen Ratgeber mehr brauchen, wenn sie verstehen, wie Kinder sich entwickeln. Remo Largo
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