KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 49 03 / 2018 REDAKT IONELLE SE I TEN Ergänzung zu Leserbrief Welche Beikost «wünscht» sich das Baby? E s gibt kaum ein Thema, bei dem mehr Mythen und Folklore zu finden sind. Schon der Zeitpunkt des Be- ginns der «Beifütterung» stiftet Verwirrung, doch es wird noch verwirrender, wenn Eltern das «richtige» Nahrungsmittel suchen. «Die beste Methode zum Bei- füttern», schreibt die American Society of Pediatrics, ist «nicht bekannt». Bei uns beginnen wir mit Karotten (al- lergiefördernd?), Kartoffeln (sehr geschmacksarm). Was ist mit Brokkoli? Bei den Franzosen Artischocken. Wa- rum überhaupt Gemüse? Asiaten essen Reis mit Fisch, Amerikaner nur «cereals» (Getreideflocken). Es gibt keine wissenschaftlichen Studien zum Thema Beikost. Interessant ist, dass stärkehaltige Beikost von gestill- ten Kindern besser vertragen wird als von nicht gestill- ten. Schon der Speichel von Säuglingen enthält Amy- lase, ein zum Abbau von Stärke notwendiges Enzym. Auch die Muttermilch enthält eine hohe Menge von Amylase. Vieles spricht also dafür, dass der gestillte Säugling problemlos und häufig lustvoll zerkaute Früch- te oder Beeren geniessen kann. Die Empfehlung der WHO, sechs Monate ausschliessliches Stillen, wirkt et- was hölzern. Sicher nicht «traditionell» oder «natür- lich». Kaum jemand zieht das in der Realität durch (laut Untersuchungen 3% der Mütter). Bedenklich empfin- de ich den vorhandenen Umkehrschluss in unseren Brei- tengraden, nach sechs Monaten sei die Muttermilch nicht mehr genügend. Aus dem Buch «Kinder verstehen» von Herbert Renz Polster möchte ich ein Experiment der Kinderärztin Dr. Clara Davis vor 90 Jahren zitieren: «Was passiert, wenn man Säuglinge nach dem Ab- stillen selbst entscheiden lässt, was sie essen wollen? Was sind ihre «natürlichen» Vorlieben? Wissen Säug- linge «instinktiv», was gut für sie ist? Ist ihre Wahl so vielfältig, dass sie ihren Bedarf an Energie, Eiweiss, Vi- taminen und allem stillen, was man für ein gesundes Wachstum braucht? Die Kinderärztin beobachtete in ihrem gewagten und heute nicht mehr möglichen Experiment 14 voll gestillte Waisenkinder im Alter von sechs bis elf Monaten, und das bis zu sechs Jahre lang ... Zu jeder Mahlzeit beka- men die Kinder ein Tablett mit zehn Speisen und zwei Getränken aus einem Sortiment von 33 Nahrungsmit- teln, darunter Äpfel, pürierte Ananas, Tomaten, geba- ckene Kartoffel, gekochter gemahlener Vollkornwei- zen,, Mais, Hafer, Roggen, gehacktes und gekochtes Rindfleisch, Knochenmark, Hirn, Nieren, gehackter Fisch, Eier, Salz, Wasser, verschiedene Sorten Milch, Orangensaft… Die Kinder durften essen, wie sie wollten, Kranken- schwestern unterstützten sie dabei, reichten aber nur das, worauf die Babys zeigten. Nach mehreren Jahren und 37500 Mahlzeiten ergab sich Überraschendes: Alle Kinder gediehen prächtig! Mangelerscheinungen waren nicht aufgetreten, die Blutwerte waren alle im normalen Bereich. Alle Kinder hatten eine normale Verdauung, und alle vertrugen die gewählte Kost problemlos. Überraschend aber war, wie viele Wege zum Ziel führ- ten (darunter einige, die heute den Alptraum jedes Er- nährungswissenschaftlers darstellen): – Zum einen hatten die Kinder sehr unterschiedliche Vorlieben. Trotzdem verzehrten sie im Schnitt in etwa die gleichen Mengen an Fett, Eiweiss und Kohlenhy- draten! – Die angebotene Nahrung wurde teilweise extrem eigenwillig kombiniert (so bestand das Frühstück bei einem Kind etwa aus einem halben Liter Orangensaft und etwas Leber). – Die Vorlieben kamen oft in Wellen: Da verschlang ein Dreijähriger zum Abendessen ein Pfund Lammfleisch, andere Kinder assen ein paar Tage lang fast nur Bananen, dann Hackfleisch usw. – Die bei den Mahlzeiten verspeisten Mengen waren extrem unterschiedlich: Zur einen Mahlzeit wurde viel gegessen, an anderen nur gepickt. – Überraschend: Die Kinder assen viel Früchte – dafür aber umso weniger Gemüse und auch nur wenig Ge- treide. Ein Mädchen ass während Jahren insgesamt nur etwas mehr als ein Kilogramm Gemüse! Kohl, Spinat und Kopfsalat wurden von praktisch allen Kin- dern abgelehnt. Die damals übliche, vor allem auf Milch und Getreide basierende Kleinkindkost wur- de von keinem einzigen Kind längerfristig gewählt.» Meines Erachtens zeigt der Versuch, und auch meine Erfahrungen aus meiner Praxis, dass das Kind, das ab sechs Monaten im Kindersitz am Tisch sitzen darf, in Sachen Ernährung sehr kompetent ist. ■ DR. MED. CYRIL LÜDIN, MUTTENZ, MITGLIED DER REDAKTIONSKOMMISSION Korrespondenzadresse: cyril@luedin.eu
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