KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
03 / 2018 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 35 willkommene und haltgebende Elemente im Spital-All- tag von Frau Schütz. Ihre mütterliche Identität hatte Frau Schütz bisher noch wenig entwickelt. Die Musiktherapie bot ihr Raum, diesen Prozess nachzuholen. Sie wollte sich dabei auch mit eigenen biografischen Erfahrungen und kulturellen wie spirituellen Werten auseinandersetzen. Der Vater der Kinder wünschte bei einer Sitzung eben- falls dabei zu sein. Bei dieser Gelegenheit wurde deutlich, dass die Eltern unsicher wirkten im Umgang miteinander. Jakob und Markus (Namen geändert) kamen in der 27. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsge- wicht von je 900 g zur Welt. In der Neonatologie fiel auf, dass die Mutter nach ih- rem Spitalaustritt zunehmend seltener kam und auch nicht känguruhn wollte. Sie war oft erst spät abends da und kam nie ohne ihren Mann. Die Kinder waren von den Vitalparametern her beide sehr instabil. Dem- entsprechend zeigten sich die Eltern ängstlich bei der Versorgung der Kinder. Sie sprachen über, aber nicht mit den Kindern. Das Team reagierte schnell – die be- treuende Ärztin und die Bezugs-Pflegefachfrau suchten das Gespräch, und auch die Psychologin wurde invol- viert. Familie Schütz erhielt gut strukturierte, einfühlsa- me und enge Begleitung durch das gesamte interdiszi- plinäre Team. So konnten die Eltern langsam Vertrauen fassen. Die Mutter kam nun häufiger und auch alleine. Die Musiktherapeutin setzte sich beim Känguruhn oft zu den Eltern und spielte deren Lieblingslieder auf der Kantele, oder die Eltern führten leise Gespräche mit ih- ren Kleinen, begleitet und eingebettet vom Musikspiel der Therapeutin. Eltern und Therapeutin summten zu Beginn gemeinsam, später taten die Eltern dies auch alleine. Für die Mutter waren die Lieder aus ihrer reli- giösen Gemeinschaft wichtig, für den Vater einfache Kinderlieder aus dem schweizerischen Liedgut. Im Ge- spräch wurden aktuelle Entwicklungsschritte und Zei- chen der Kinder beobachtet. Herr und Frau Schütz wur- den sicherer im Umgang mit ihren Buben, die sich nun auch besser entwickelten. Die Eltern fühlten sich zu- nehmend wohler auf der Station und brachten sich ver- mehrt ein. Für die Mutter blieb Musiktherapie bis zum Schluss ein wichtiger Anker, und sie richtete es sich im- mer ein, dabei zu sein. Eltern und Therapeutin beobach- teten und freuten sich über Fortschritte der Kinder, und Frau Schütz blickte auf ihre anfänglich grossen Ängste und Schuldgefühle zurück. «Sie sahen gar nicht aus wie Kinder, eher wie kleine Ausserirdische», so erzählt sie im Rückblick. Sie erinnerte sich daran, wie sie stumm ne- ben der Isolette gesessen hatte und keine mütterlichen Gefühle hegte für die beiden «Fremdlinge». Die Mutter erzählte auch, wie sie die zu frühe Geburt der Kinder als persönliches Versagen empfunden hatte und unendlich enttäuscht war, dass es ihr nicht gelungen war, die Kin- der länger auszutragen. Dies war anders gegen Ende des Spitalaufenthaltes. Die Eltern freuten sich zunehmend auf den bevorste- henden Austritt der Kinder, und ihre Bedenken über mögliche Gefahren und Risiken nahmen ab. Beim Ab- schied sagte Frau Schütz mit leuchtenden Augen: «Jetzt fühle ich mich wie eine richtige Mutter!» Einige Wochen nach Austritt von Markus und Jakob wurde für die Musiktherapeutin auf der Station ein Pa- ket abgegeben: ein Instrument aus Brasilien. Die wun- derschöne Rassel aus Samenkapseln klingt wie das Rau- schen des Regens im tropischen Urwald und erinnert nun immer an Jakob, Markus und ihre Eltern. Zurück zu Nevio und Luca, den beiden eingangs vor- gestellten Zwillingsbrüdern und ihrer Familie. Ihre Fami- lienlieder begleiteten sie durch die Zeit in der Neonato- logie. Neben «Stella, Stellina» wurde ein zweites Lied wichtig: «Bärebrüeder hebe zäme, Bärebrüeder gäh nid uf!» Immer dann, wenn die grosse Schwester Sahra auch mit dabei war, erklang die frohe Melodie. Durch die von der Musiktherapeutin angeregten Interventionen erlebte sich die Familie eigenaktiv. Das gemeinsame Singen und Beisammensein ermöglichte wertvolle Erlebnisse, die für alle Beteiligten zu liebgewordenen Erinnerungen wur- den. Das Beispiel bestätigt die Aussage von Prof. Dr. med. Sven Schulzke, Leitender Arzt der Neonatologie am Uni- versitäts-Kinderspital beider Basel UKBB: «Musikthera- peutische Interventionen haben sich auf der Neonatolo- gie erfreulicherweise als ein äusserst hilfreiches Angebot für Eltern und Kinder etabliert. Aus ärztlicher Sicht ist dieses Angebot deswegen hervorragend, weil es sowohl auf Frühgeborene als auch auf deren Eltern positive Ein- flüsse hat. In methodisch hochwertigen Studien wurde die Wirksamkeit dieser Interventionen im Sinne physiolo gischer Stabilisierung und Förderung der kindlichen Ent- wicklung, aber auch hinsichtlich des Abbaus elterlicher Ängste nachgewiesen. Da die Neonatologie UKBB eine evidenzbasierte Therapiestrategie verfolgt, passt die Musiktherapie perfekt in unser Konzept, denn die Etab- lierung schonender und wirksamer Behandlungsformen ist eines unserer zentralen Anliegen.» ■ Das Literaturverzeichnis ist im E-Paper dieser Ausgabe. Foto: UKBB
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