KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
FORTB I LDUNG 03 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 32 F rühgeborene Kinder sind eine wichtige Patienten- gruppe im Gesundheitswesen – laut Bundesamt für Statistik sind dies in der Schweiz seit mehreren Jahren rund 7% aller Lebendgeburten. Die Versorgung eines zu früh geborenen Kindes auf der neonatologischen In- tensivpflegestation ist anspruchsvoll und dauert in der Regel bis zum offiziellen Geburtstermin des Kindes – unter Umständen also mehrere Monate. Mit verschiede- nen Konzepten aus dem medizinischen, pflegerischen wie therapeutischen Bereich wird versucht, den Schwie- rigkeiten von Frühgeborenen und ihren Eltern unter- stützend zu begegnen. Musiktherapie stellt eine der nicht-medikamentösen Therapieformen dar, die in ei- ner wachsenden Anzahl von Kinderkliniken in Ergän- zung zur medizinischen Betreuung und den unterstüt- zenden Pflegemassnahmen angeboten werden. «Hallo Nevio, hallo Luca – do isch’s Mami – und dr Papi – und ich, euri grossi Schwöschter Sahra (Namen der Kinder geändert). Mir singe euch jetzt euses Lieb- lingslied. Und mir freue uns, wenn ihr bald gnueg gross und schtarch wärdet, dass ihr chöned heime cho!» In den ersten Wochen waren die Zwillingseltern sehr in Sorge um das Überleben und die Gesundheit ihrer in der 26. Schwangerschaftswoche geborenen Buben. Gefühle wie Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit nach der für alle Beteiligten viel zu frühen Geburt verunsi- cherten die Eltern sehr. Der fragile Gesundheitszustand brachte immer wieder Unvorhergesehenes mit sich, was die Eltern manchmal fast verzweifeln, verstummen liess. Im Rahmen der Musiktherapie hatten sie eine Stimm- aufnahme für ihre kleinen Zwillingssöhne hergestellt. Es beruhigte sie zu wissen, dass die Kinder ihre Stim- me auch hören konnten, wenn sie selbst nicht anwe- send waren. Mit Unterstützung der Musiktherapeutin begannen die Eltern jedoch bald, auch auf der Station für ihre Kinder zu singen. Das feine Summen der Mut- ter und die liebevollen Zwiegespräche des Vaters wa- ren immer zu hören, wenn die Eltern anwesend wa- ren und mit den Kindern kuscheln oder sie versorgen durften. «Stella, Stellina, la notte si avvicina…» Die Melodie war in Kürze allen Stationsmitarbeitenden ver- traut, und auch die Physiotherapeutin summte sie bei ihren Behandlungen der kleinen Zwillingsbrüder. Erkenntnisse aus der Säuglings- und Bindungsfor- schung, Entwicklungspsychologie, aus Neurowissen- schaften, Psychotherapie, Musikmedizin und Stress- forschung bieten theoretische Grundlagen und Orientierungshilfen für die musiktherapeutische Arbeit in der Neonatologie. Sie orientiert sich am Einfluss der intrauterinen Klangwelt auf das ungeborene Kind und der Wirkung eines Beziehungsangebots mittels Musik bzw. musikalischen Parametern auf das physische und psychische Befinden des Menschen [1]. Die stabilisie- rende Wirkung auf die Vitalparameter und die Entwick- lung des Kindes sowie der positive Einfluss von Musik- therapie auf den Bindungsprozess zwischen Eltern und Kind wurde verschiedentlich international evaluiert und belegt. Musiktherapie wird zudem als wirkungsvoller Beitrag zur kindlichen Entwicklungsförderung und Prä- ventionsmöglichkeit bei prä- und postpartalen Ängsten und Depressionen beschrieben [2] – [16] u. a. Eine neu- ere Basis für den evidenzbasierten Einsatz von Musik- therapie in diesem Fachgebiet bietet der Referenzrah- men des europäischen Fachkreises für Musiktherapie in der Neonatologie. Die qualifizierten MusiktherapeutIn- nen des Fachkreises orientieren sich in ihrer Arbeit an diesen Richtlinien [1]. Bindung als Schutzfaktor Die Bindung der werdenden Mutter und des werdenden Vaters an ihr Kind beginnt sich während der Schwan- gerschaft zu entwickeln – auch die Eltern brauchen die- se vierzig Wochen bis zum Zeitpunkt der Geburt, um sich auf die mit dem Dasein eines Kindes einhergehen- den Veränderungen vorzubereiten. In welcher Qualität diese Bindung sich entwickelt, hängt stark von den ei- genen Bindungserfahrungen der werdenden Eltern ab. Ausgeprägte Vorstellungen über die Eigenschaften des heranwachsenden Kindes, Komplikationen während der Schwangerschaft oder Befunde über Fehlbildun- gen und Behinderung können die Entwicklung der El- tern-Kind-Bindung beeinflussen. Die Bindungsqualität ist wesentlich für die langfristige Entwicklung und hat einen entscheidenden Einfluss auf die gesamte emotio- nale und kognitive Entwicklung des Kindes. Wenn nun die Schwangerschaft sehr abrupt und un- erwartet durch eine Frühgeburt endet, ist dies für die Eltern häufig mit starker Verunsicherung verbunden. Bei den Müttern ruft der Zustand ihres Kindes oftmals ambivalente Gefühle hervor. Sowohl grosse Zärtlichkeit und Liebe als auch heftige Schuldgefühle gehören dazu. Manche Eltern reagieren mit emotionalem Rückzug. Sie vermeiden es zunehmend, ihr frühgeborenes Kind zu besuchen oder weichen andernfalls gar nicht mehr vom «Stella, Stellina, la notte si avvicina . . .» Bindungs- und familienzentrierte Musiktherapie beim frühen Start ins Leben. Ein Bericht aus der klinischen Praxis. MONIKA ESSLINGER, KLINISCHE MUSIKTHERA- PEUTIN MAS ZFH, SFMT, UNIVERSITÄTS-KINDER- SPITAL BEIDER BASEL, BASEL Korrespondenzadresse: monika.esslinger@ukbb.ch
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