KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018

03 / 2018 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 27 1. Seelisches Erleben beginnt vor der Geburt Nicht nur biologisches Leben, sondern auch seelisches Er leben beginnt vor der Geburt. Mit diesem und ande- ren Themen befasst sich die pränatale Psychologie, ein Teilgebiet der Entwicklungspsychologie, das u. a. psychi- sche Einflüsse der schwangeren Frau auf das ungebo- rene Kind untersucht [1]. Aktuelle Erkenntnisse zeigen, dass emotionale Befindlichkeiten der Mutter das unge- borene Kind auf vielfältige Weise erreichen und dass auch die Bindungsentwicklung schon pränatal beginnt und geprägt wird [2]. Das ungeborene Kind nimmt be- reits teil am emotionalen Leben der Mutter [1].  Die Emotionen der Mutter für sich genommen zu be- trachten, greift jedoch zu kurz, auch Faktoren der Um- welt werden bei der pränatalen Prägung als bedeut- sam angesehen. Die mechanistisch-reduktionistisch geprägte Forschungsliteratur der Biomedizin fokussiert dabei charakteristischerweise auf materielle Entitäten wie Nikotin, Alkohol und unterschiedliche Nahrungs- bestandteile. Zunehmend wird jedoch klar, dass sich die Forschung in diesem Zusammenhang auch mit komple- xeren sozialen und psychosozialen Faktoren beschäfti- gen sollte, um neueren ganzheitlich orientierten Ansät- zen in der Medizin Genüge leisten zu können [3]. 2. Die biopsychosoziale Perspektive der Psychoneuroimmunologie (PNI) Geht es um die Einflüsse auf das Kind im Mutterleib, so ist es unbedingt erforderlich, beide Elternteile, das Familienleben, das soziale Umfeld sowie gesellschaftli- che Faktoren (z. B. den sozioökonomischen Status, SES) zu berücksichtigen [3]. Den dafür notwendigen theo- retischen Rahmen bietet das von George Engel vorge- stellte biopsychosoziale (BPS-) Modell [4, 5]. Das BPS- Modell vertritt eine zur klassischen Biomedizin konträre Sichtweise, die vielmehr das verkörpert, was wir heu- te unter einer «neuen Medizin» verstehen [6]: Gesund- heit bzw. Krankheit wird ganzheitlich als ein komplexes und dynamisches Zusammenspiel biologisch-organi- scher, psychischer und sozial-gesellschaftlicher Fakto- ren begriffen, welches sich über die gesamte Lebens- spanne hinweg mehrdimensional entfaltet ([7], Abb. 1).  Dabei werden die individuelle Seite menschlichen Er- lebens und die subjektive Bedeutung von Belastungsfak- toren, die insbesondere im Bereich der Stressforschung relevant sind, als massgeblich angesehen und dürften in ihren Auswirkungen weitaus bedeutender sein als das stressreiche Ereignis per se [8, 9]. Das verdeutlichen auch Befunde aus der pränatalen Stressforschung, wonach die subjektive Wahrnehmung und Bewertung von Stressoren während der Schwangerschaft das Risiko einer Früh­ geburt stärker beeinflussen als die blosse Konfrontation mit belastenden Ereignissen und Bedingungen [10].  Diese theoretischen Überlegungen können als grund- legend für die Psychoneuroimmunologie (PNI) angesehen werden. Die PNI ist ein vergleichsweise junger Forschungs- zweig der Psychosomatik, der sich mit den Wechselwir- kungen zwischen Psyche, Nerven-, Hormon- und Immun- system befasst [11] bzw. damit, wie sich psychosoziale Reize in unserem Immunsystem abbilden [12]. Die PNI ermöglicht es so auch, sich dem komplexen Bereich der pränatalen Psychologie empirisch anzunehmen. Beim Themenkomplex Schwangerschaft wird dabei vor allem untersucht, wie sich pränatal auftretende psychosoziale Stressoren aus dem Leben der Mutter (z.B. schwanger- schaftsassoziierter Stress, Ängste, bedrohliche Lebens- ereignisse/Naturkatastrophen) über neuroimmunologische Veränderungen auf das Kind und seine weitere Entwick- lung auswirken [13]. In diesem Zusammenhang erlangte das Konstrukt des «fetal programming» Bedeutung. 3. «Fetal programming»: «Das Pränatale im postnatalen Raum» [14] «Fetal programming» bedeutet, dass ungünstige Um- welteinflüsse während pränataler Entwicklungsphasen mit tiefgreifenden und langfristigen Effekten auf das ungeborene Kind verbunden sind und damit verant- wortlich für eine Reihe von Erkrankungen im Erwach- senenalter sein können [13, 15].  Menschliche Entwicklung ist ein aktiver und plasti- scher Prozess, der in der intrauterinen Lebensspanne mitunter am sensitivsten gegenüber Umwelt- und auf Psychoneuroimmunologie impränatalenRaum Wie psychosoziale Belastungen in der Schwangerschaft das Stresssystem des Kindes langfristig beeinträchtigen MICHAELA OTT, BKK PROVITA, BERGKIR- CHEN, DEUTSCHLAND LEOPOLD-FRANZENS- UNIVERSITÄT INNSBRUCK, INNSBRUCK, ÖSTERREICH MAGDALENA SINGER, LEOPOLD-FRANZENS- UNIVERSITÄT INNSBRUCK, INNSBRUCK, ÖSTERREICH CHRISTIAN SCHUBERT, KLINIK FÜR MEDIZINISCHE PSYCHOLOGIE, MEDIZI­ NISCHE UNIVERSITÄT INNSBRUCK, ÖSTERREICH Korrespondenzadresse: christian.schubert@i-med.ac.at Abbildung 1: Erweitertes biopsychosoziales Modell. Die vertikale Achse stellt [4, 5] die hierarchisch geschichteten biopsychosozialen Ebenen und deren Wechselwirkungen in Anlehnung an George Engel dar. Die horizontale Achse umfasst die Lebensspanne eines Menschen, wobei auch pränatale Faktoren, wie etwa die Familiengeschichte, eine Rolle spielen. Die biopsychosoziale Entwicklung betrifft somit mehrere Dimensionen [aus 7].

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