KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018

FORTB I LDUNG 03 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 26 sätzlich nicht erinnert werden können. Es hinterlässt in der Grosshirnrinde als Sitz des deklarativen Langzeitge- dächtnisses keine oder keine erinnerungsfähigen Spuren.  Aus dieser Sicht kann es auch – anders als Freud und viele seiner Anhänger an manchen Stellen sagten und sagen – keine Verdrängung von Wünschen, Vorstel- lungen usw. ins Unbewusste geben. Natürlich können bewusste Vorstellungen die Aktivität in der Amygdala oder im Nucleus accumbens beeinflussen, aber das ge- schieht dann nicht im Format von Wünschen, Vorstel- lungen usw., sondern im Format der Umstrukturierung von Nervennetzen. Diese Umstrukturierungen können dann natürlich wiederum «wortlose» Auswirkungen auf das Bewusstsein haben, so wie das, was mein Lap- top macht, Auswirkungen auf mich haben kann, ohne dass er das will oder den Wunsch dazu hat. In diesem Prozess werden also bewusste und vorbewusste Inhal- te «de-formatiert» und können eventuell wieder ins Be- wusstseinsformat rück-formatiert werden. Das Vorbewusste (Abb.5) Das «ursprüngliche Denken», die Triebrepräsentanzen, die Fantasien, Wünsche und, imaginären Szenerien, von denen Freud spricht, können entsprechend nicht im pri- mären oder sekundären Unbewussten angesiedelt wer- den, obwohl sie selbstverständlich durch diese stark be- einflusst werden, sondern nur im tiefen Vorbewussten als dem riesengrossen Anteil des deklarativen Langzeit- gedächtnisses. Alles, was wir bewusst erleben, sinkt – so- fern wir es nicht ständig im Arbeitsgedächtnis re-aktivie- ren (was nur für kurze Zeit geht) – ins Vorbewusste, d.h. ins Langzeitgedächtnis ab. Wie tief es absinkt, hängt von verschiedenen Faktoren wie der kognitiven und emotio- nalen Intensität des Inhalts und des Kontextes, der An- bindungsfähigkeit an vorhandene Inhalte, Sinnhaftigkeit und Bedeutungshaftigkeit usw. ab. Mit jeder Wieder­ erinnerung bessert sich in aller Regel die Abrufbarkeit.  Wie genau der «Abruf» geschieht, ist wenig bekannt. Bekannt ist, dass für einen normalen Abruf der Hippo- campus notwendig ist, der als Zwischengedächtnis die «Zugriffscodes» für das Langzeitgedächtnis enthält. Man- che Dinge, die sehr stark konsolidiert und automatisiert sind (eigener Name, Wohnort usw.), können aber auch durch direkten corticalen Zugriff abgerufen werden.  In diesem Kontext tritt auch das Phänomen der Ver- drängung auf: bestimmte Inhalte, die «unerwünscht», konflikthaft, schmerzhaft, dissonant usw. sind. Hierbei scheint der anteriore cinguläre Cortex (ACC) als kogni- tiver und emotionaler «Konfliktmonitor» eine wichtige Rolle zu spielen und auf bisher unbekannte Art den Ab- ruf derart zu beeinflussen, dass bestimmte Inhalte blo- ckiert sind. Der ACC wird seinerseits stark von Amygdala und Nucleus accumbens beeinflusst und beeinflusst um- gekehrt diese Zentren stark. So könnte verhindert wer- den, dass Aktivitäten aus Amygdala und Nucleus accum- bens in das Langzeitgedächtnis dringen und Konflikte hervorrufen. Das «Unerwünschte» am Konflikt wird al- lerdings im dorsolateralen (kognitiv) und orbitofrontal- ventromedialen Cortex (emotional) konstatiert, und zwar sowohl in individueller als auch sozialer Hinsicht. Es ist der eigentliche Zensor im Freud’schen Sinne. Auch hier trifft zu, dass assoziativ-corticale Prozesse bewusstseins- begleitet sein können, aber nicht müssen, d.h. der Pro- zess der Verdrängung, obwohl cortical veranlasst, kann auch unbewusst vonstatten gehen (Abb. 6). ■ LITERATURHINWEIS: Gerhard Roth und Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Voll­ ständig überarbeitete Ausgabe Klett-Cotta, Stuttgart 2018 (dort auch weiterführende Literatur zum Thema). ANSCHRIFT DES VERFASSERS: Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, Universität Bremen, Institut für Hirnforschung, D-28334 Bremen Zusammenfassung Unbewusst arbeitende subcorticale Zentren wie Hypo- thalamus, Amygdala oder Basalganglien müssen als bild- und wortlose Netzwerke angesehen werden, die direkt Verhaltensweisen und körperliche Reaktionen kontrollieren und zugleich bewusste corticale Pro- zesse beeinflussen, die aber nicht erfahren werden. Gefühle, Bilder, Töne, Vorstellungen, Worte, Erinne- rungen und auch Träume entstehen ausschliesslich in diesen corticalen Arealen. Unsere bewussten Erlebnisse beruhen auf einer unauftrennbaren Mischung subcorticaler und corti- caler Ereignisse. Abbildung 6 Wichtige Schritte in der psychoneutralen Entwicklung des Menschen 1. Entwicklung des Stress-Verarbeitungssystems (vorgeburtlich, früh nach- geburtlich): unbewusst oder bewusst nicht erinnerbar 2. Entwicklung des internen Beruhigungssystems (vorgeburtlich, früh nach- geburtlich): unbewusst oder bewusst nicht erinnerbar 3. Entwicklung von Bindungsfähigkeit, Empathie und Theory of Mind (2.–20. Lebensjahr): bewusst nicht erinnerbar oder erinnerbar. 4. Entwicklung des internen Motivationssystems (erste Lebensjahre) bewusst nicht erinnerbar oder erinnerbar 5. Entwicklung des lmpulshemmungssystems (1.–20. Lebensjahr): bewusst nicht erinnerbar oder erinnerbar 6. Entwicklung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung (3.–20. Lebensjahr oder noch später) bewusst-erinnerbar. Das Vorbewusste Das Vorbewusste umfasst Inhalte, die aktuell bewusst waren und nach kurzer Zeit ins «Vorbewusste», d. h. das episodische Langzeitgedächtnis (eLZG) abgesunken sind. Je nach Vorverarbeitung im Arbeitsgedächtnis, Art und Stärke der Verankerung sind sie leichter oder schwieriger zu erinnern. Inhalte können so tief ins eLZG abgesunken sein, dass sie nicht mehr «aus eigener Kraft» erinnert werden können. Inwieweit dies auf mangelnde Verankerung oder auf «Verdrängung» zurückzuführen ist, ist unklar. Diese Inhalte des «tiefen Vorbewussten» können dem Unbewussten ähneln und werden oft mit ihm verwechselt. Sie sind aber im Gegensatz zum Unbewussten Teil des LZG. Sie können deshalb mit fremder Hilfe im Prinzip wieder bewusst gemacht werden. Abbildung 4 Abbildung 5

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