KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018

03 / 2018 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 25 nicht gleichzeitig aktiv ist. Die Person wird dann even- tuell Dinge empfinden oder tun, die ihr rätselhaft sind. Furcht/Angst-Konditionierung (Abb.3) Dies ist im Zusammenhang mit Furcht/Angst-Kondi- tionierung oder auch Handlungspräferenzen gut un- tersucht: Man kann eine Person ohne viel Aufwand furchtkonditionieren oder eine Verhaltenspräferenz in- duzieren, ohne dass die Person irgendetwas davon er- fährt, z. B. indem man sehr schwache oder «maskierte» Reize verwendet. Man kann dann den gesamten Vor- gang der Konditionierung und auch der De-Konditio- nierung genau auf neuronaler Ebene studieren und Vo- raussagen für das Verhalten treffen, die die betroffene Person nicht nachvollziehen kann. Es gilt also: Das Be- wusstsein benötigt für Erleben und Verhalten immer das Unbewusste, aber das Unbewusste kann ohne jegli- ches bewusstes Erleben Verhalten steuern.  Bei der «Umverdrahtung» der Amygdala oder des Nucleus accumbens bei der unbewussten Furchtkondi- tionierung oder Etablierung von Verhaltenspräferenzen entstehen weder «Triebe» und «Wünsche» noch Bilder, Töne, Worte, Vorstellungen oder Träume. Solche Begrif- fe sind nur sinnvoll in Verbindung mit einem bestimm- ten Erleben. Ich kann keine Wünsche haben, wenn ich sie gar nicht erlebe, und wenn ich Triebe habe, die ich nicht erlebe, dann sind sie für mich auch keine Triebe – höchstens könnte der externe Beobachter vermuten, dass es im Patienten etwas Triebhaftes gibt, das die- ser aber nicht erlebt. Bilder, Töne, Worte, Vorstellungen, Fantasien und Träume sind unabdingbar an Bewusst- sein gebunden, auch wenn sie durchaus unter Einfluss unbewusster Strukturen und Prozesse auftreten. Man kann unbewusste Reaktionen zeigen, aber keine unbe- wussten Empfindungen haben.  Dies bedeutet, dass es sich bei den Vorgängen im Hypothalamus, in der Amygdala oder im Nucleus ac- cumbens um mehr oder weniger reine lernende bzw. konditionierbare Netzwerkprozesse handelt, deren In- halt und Bedeutung für uns erst dadurch entstehen, dass sie bewusstseinsfähige limbische oder kognitive Cortexareale beeinflussen. Wünsche, Bilder, Vorstellun- gen, Motive kommen als Erlebniszustände also nicht aus der Amygdala, sondern entstehen «interpretativ» im Cortex aufgrund der Einwirkung der Amygdala. In- sofern gibt es im strengen Sinne auch keine unbewuss- ten Konflikte, sondern Konflikte sind Erlebniszustände im Cortex aufgrund der Interpretation der Reaktionen etwa der Amygdala und des Nucleus accumbens. So könnten wir beobachten, dass die Amygdala als unbe- wusstes Netzwerk für Aversion und der Nucleus accum- bens als unbewusstes Netzwerk für Appetenz auf den- selben Reiz unterschiedlich reagieren, und wir könnten erlebnismässig sagen: «Da tut sich ein Konflikt zwischen Aversion und Appetenz auf» – aber die Amygdala und der Nucleus accumbens selber haben kein Konfliktbe- wusstsein (so etwas sagte auch schon Freud!), sondern das ist entweder eine Schlussfolgerung des Beobachters oder des Selbsterlebens.  Es gibt auch kein «unbewusstes Denken» oder eine unbewusste Suche nach Problemlösungen. So etwas würden wir von unserem Laptop auch nicht behaupten – Denken und Problemlösen sind bewusste kognitive Zustände, denen unbewusste Prozesse vorhergehen bzw. zugrunde liegen. Das bedeutet aber, dass Psychi­ ater und Psychotherapeuten die Vorgänge im Unbe- wussten immer nur erschliessen, aber nie direkt erken- nen können (Abb. 4).  Das Bewusstsein kann seinerseits natürlich sehr unter- schiedliche Grade aufweisen, aber das vollzieht sich in- nerhalb der Grosshirnrinde je nach Stärke ihrer Aktivie- rung, nicht im Übergang von subcorticalen zu corticalen Prozessen. Wenn man in der Psychoanalyse also von der «Macht des Unbewussten» spricht und damit die über- aus wichtigen Prozesse in der Amygdala, dem Nucleus accumbens usw. meint, dann darf man nicht mit Attri- buten und Begriffen arbeiten, die nur auf der Ebene des potenziell oder aktuell Bewussten Sinn machen. Trieb, Wille, Wünsche, Bilder, Motive entstehen dort – wenn- gleich unter Einflussnahme des Unbewussten. Es sind Aktivitätszustände, Reaktionen oder Reaktionsdispositi- onen, die wir auf der Ebene des primär Unbewussten an- treffen und die eine «kausale Kraft» ausüben, wie Freud sagt. Das Bewusste ist nicht einfach eine Fortsetzung des Unbewussten, hat ein ganz anderes «Format» und auch andere Konsequenzen für das Verhalten und die Ge- dächtnisbildung. Die stärkste Wirkung hat ein Inhalt auf Verhalten und Gedächtnisbildung, wenn er gleichzeitig unbewusst und bewusst präsent ist. Das sekundäre Unbewusste Das sekundäre Unbewusste ist eine ganz andere Art des Unbewussten und identisch mit Inhalten, die vom Säug- ling und Kleinkind (vermutlich) bewusst erlebt wurden, aber wegen des Fehlens oder der mangelhaften Aus- bildung des deklarativen Langzeitgedächtnisses grund- Abbildung 3 (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert) Längsschnitt durch das menschliche Gehirn Blau: Limbisches System als Sitz der unbe- wussten und bewussten Persönlichkeit und «Psyche»

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx