KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
FORTB I LDUNG 03 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 24 D ie akademische Psychologie hat sich mit dem Unbe- wussten und seiner möglichen Funktion bis heute schwer getan. Auch in der Psychiatrie und der gängigen Psychotherapierichtungen gibt es nur in der Psychoana- lyse ausgearbeitete Konzepte des Unbewussten, wobei Freud selbst – auch von ihm selbst zugegeben – kein in sich konsistentes Modell der Beziehung von Bewusst- sein, Vorbewusstem und Unbewusstem entwickelt hat (s. Roth und Strüber, 2018). Aus Sicht der Neurowissenschaften sind folgende Grundannahmen der klassischen Psychoanalyse nach wie vor gültig: (1) Das Unbewusste bestimmt das Be- wusstsein stärker als umgekehrt. (2) Das Unbewusste legt in der Entwicklung des Individuums sehr früh die Grundstrukturen des Psychischen und des bewussten Erlebens fest. Entsprechend sind schwere psychische Störungen im Erwachsenenalter i. a. R. die Folge unbe- wusster vorgeburtlicher und früh nachgeburtlicher psy- choneuraler Fehlentwicklungen. (3) Verdrängte Konflik- te äussern sich in «verkleideter» Form auf der Ebene der Bewusstseinszustände in Form von Wünschen, Träu- men, Fehlleistungen, Neurosen usw. (4). Das Bewusstsein Das Bewusstsein (Abb.1) hat keine oder nur geringe Einsicht in die unbewussten Determinanten des Erlebens und Handelns. Dies erfordert zwingend die analytische Arbeit des Therapeuten. Es stellt sich also die Frage, wie einschlägige Erkenntnisse der Hirnforschung lauten. Das primäre Unbewusste (Abb.2) Aus Sicht der Hirnforschung umfasst das Unbewusste Zustände, die unter keinen Umständen bewusst erlebt werden können. Hierbei müssen wir zwei Zustände un- terscheiden: das primäre und das sekundäre Unbewuss- te. Das primäre Unbewusste umfasst Geschehnisse, die niemals bewusst waren und auch nicht bewusst ge- macht werden können, weil sie in einem nicht bewusst- seinsfähigen «Format» abgelegt wurden. Dazu gehören (1) alle regulatorischen Vorgänge innerhalb der Organe auf zellulärer und suprazellulärer Ebene, die der «Ho- möostase» dienen (sie werden als Meldungen an die «viszerale» Grosshirnrinde bewusst, wenn Dinge schief laufen); (2) Prozesse der sensorischen Informationsver- arbeitung von den Sinnesorganen an vor der Aktivie- rung bestimmter assoziativer Cortexareale (wir können grundsätzlich nicht erleben, was in der Netzhaut, in visu- ellen thalamischen Kernen oder in primären und sekun- dären visuellen Cortexarealen geschieht – wir erleben nur das «fertige Produkt» dieser komplizierten Kette); (3) alle subcorticalen limbischen Prozesse, etwa in der Amygdala oder im Nucleus accumbens; (4) alle motori- schen Abläufe nach der Aktivierung bewusstseinsfähi- ger «exekutiver» und supplementärmotorischer Areale (wir erleben es nicht, wie unser Gehirn es macht, un- seren Arm zu bewegen, nachdem wir dies «gewollt» haben). Vielfältige unbewusste Prozesse sind notwen- dig für das Auftreten von bewussten Prozessen, auch wenn sie selbst nicht bewusst ablaufen. Falls die Aktivitäten in den genannten subcortica- len Zentren hinreichend stark sind, regen sie die be- wusstseinsfähigen limbischen und kognitiven Cortex areale an, und wir haben bewusste Empfindungen. Wir können aber unter keinen Umständen durch Intro spektion oder aufgrund intensiver Befragung die Her- kunft solcher Bewusstseinszustände nachverfolgen. Es kann sein, dass die Aktivierung subcorticaler Zentren zu schwach oder ihre Weiterleitung zum Cortex blockiert ist. Dann kann man mithilfe geeigneter Methoden, z. B. der funktionellen Bildgebung, die subcorticalen Aktivi- täten nachweisen, aber die Versuchsperson wird nichts empfinden, weil der limbische oder kognitive Cortex Das Unbewusste und seine Bedeutung aus Sicht der Hirnforschung PROF. DR. DR. GERHARD ROTH, INSTITUT FÜR HIRN FORSCHUNG, UNIVERSITÄT BREMEN, D-BREMEN Korrespondenzadresse: gerhard.roth@uni-bremen.de Das Unbewusste – Alle Vorgänge in nicht-assoziativen Cortex regionen und in allen subcorticalen Hirnregionen (primäres Unbewusstes) – Vorbewusste Inhalte von Wahrnehmungs vorgängen (primäres Unbewusstes) – Unterschwellige (subliminale) Wahrnehmungen (primäres Unbewusstes) – Alle kognitiven und emotionalen Prozesse des Säuglings und Kleinkindes vor Reifung des assoziativen Cortex (sekundäres Unbewusstes). Funktionen des Bewusstseins – Detailwahrnehmung – Verarbeitung grosser, multimodaler Datenmengen – Semantisch tiefe Verarbeitung – Interne Steuerung der Aufmerksamkeit – Schnelles Erfassen der Verhaltensrelevanz von Sachverhalten – Komplexe mittel- und langfristige Handlungsplanung – Erzeugung sekundärer Repräsentationen (Gedanken, Vorstellungen) einschl. der Ich-Zustände – Intensive Verankerung im deklarativen Langzeitgedächtnis Abbildung 2 Abbildung 1
RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx