KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
03 / 2018 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 23 Diese Abgrenzungsproblematiken sind häufig. Denn der ständige Perspektivenwechsel zum Baby während gleich- zeitiger «psychodynamischer Reorganisation bei neuer El- ternschaft» (Stern 2006) kann unvermittelt zur Einflug- schneise werden in eigene, frühe interaktionelle oder auch aktuelle Not (Konflikte, Migration, Verlassenheit). Dann bleibt der Zauber gelungener, früher Synchronisation mit dem Baby aus, es bleibt unruhig, wirbt zunächst um Be- ziehung, resigniert oder schreit instrumentell. Wie können wir in der Praxis den elterlichen Perspektivenwechsel «sehen»? Im Fokus der Beobachtungen ist die Kommunikation der Eltern mit dem Baby und eine erste Einschätzung des ent- wicklungsfördernden, interaktionellen Geschehens. Pas- sen die Antworten der Mutter/des Vaters zur Stimmung des Babys, sodass das Wohlbefinden gemehrt und Explo- ration möglich wird? Erhält das Kind durch die Antwor- ten in unterschiedlichen Interaktionskanälen Orientierung über seine Zustände, damit es sich beruhigen und ent- spannen kann oder der Zustand zumindest nicht entgleist? Zentral ist die Beobachtung, wie hoch die Bereit- schaft der beiden ist, in Kontakt zu gehen. Die Höhe der Bereitschaft des Babys gibt einen Eindruck darüber, ob der Perspektivenwechsel in der Vergangenheit aus- reichend gelungen ist. Systematisiert man die Beobach- tungen und ergänzt sie mit einer intuitiven Einschät- zung, kann die elterliche Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, über Interaktionskanäle beschrieben werden: • Blickkontakt, altersadäquat und häufig gesucht und gehalten? • Stimmkontakt, vorhanden und auf den Verhaltenszu- stand des Kleinstkindes abgestimmt? • Affektive abgestimmte, d. h. passende Färbung der Stimme? • Mimisches Spiegeln des kindlichen Zustandes? • Positionierung und Körperkontakt zugewandt oder weggedreht? • Altersangemessenheit des Spielangebotes? • Art und Ausmass der Kontrolle über das Spiel und das Geschehen? (Crittenden 2006, Deneke 2004) Kinder, die über die Interaktionskanäle häufig passen- de Antworten auf ihre Interessen und Zustände erhal- ten haben, wenden sich deutlich an die Eltern, beruhi- gen sich schnell und explorieren anschliessend. Kinder, deren Eltern (psychisch) krank, erschöpft oder unter Stress sind, werden nicht adäquat gespiegelt. Sie erleben ein «Zuviel» oder ein «Zuwenig» an Stimulati- on. Die Folge ist, sie können sich schlechter beruhigen und explorieren weniger (vertieft). Ergänzend muss die subjektive Schilderung der Mut- ter / des Vaters über ihr Befinden in die Beobachtungen einfliessen und ernst genommen werden. Auch dann, wenn wenig interaktionelle Diskrepanzen zu beobach- ten sind. Depressive Mütter sind beispielsweise sehr wohl in der Lage, das Baby feinfühlig wahrzunehmen. Ihre durch die Krankheit eingeschränkte Verfügbarkeit las- sen es indes oft nicht zu, auf die Zustände des Babys auch prompt zu reagieren. Diese Babys wirken traurig oder schreien instrumentell. Die Schilderungen der Eltern selbst und das, was wir in Beziehung «sehen», helfen, die interaktionelle Not früh zu erkennen und Hilfe in die Wege zu leiten, um gedeihliche Entwicklung nicht zu bremsen und die Lern- biografie der Kinder zu schützen. Begriffliche Klärungen: Es gibt verschiedene Begriffe und Theorien, die Not im «interaktionellen Geschehen» zu beschreiben. Der Begriff der «Bindungsstörungen» im ICD10 (WHO) ist reserviert für eine schwerwiegende Patho- logie, die im Kontext schwerer kindlicher Traumatisie- rung durch Misshandlung und Vernachlässig entstan- den ist (Beispiel: Kinder in rumänischen Waisenhäuser). Auf einem anderen theoretischen Fundament stehen die Begriffe der «unsicheren und sicheren Bindung». Ainthworth (1969) hat in der Weiterentwicklung von Bowlbys Bindungstheorie (1951) diese Begriffe unter- schieden. Dabei beschreibt «unsichere Bindung» keine pathologische Eltern-Kind-Beziehung. Kinder, die ge- mäss Ainthworth eine unsichere Bindung an ihrer Mut- ter oder an ihren Vater entwickelt haben, sind zwar vulnerabler aber nicht bindungsgestört. Unterschied- liche Bindungsmuster können unter dem 18. Lebens- monat mithilfe des von Ainthworth entwickelten FST (Fremden-Situations-Test) bestimmt werden. Die ins- gesamt drei unterschiedenen Bindungsmuster zei- gen sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen klei- ner Kinder nach der Trennung von ihren Eltern und bei der Wiedervereinigung mit ihnen, d. h. in Belas- tungssituationen. Ohne die Durchführung eines FST können «sichere oder unsichere (vermeidende oder ambivalente) Bindungsmuster» nicht unterschieden werden. Deshalb empfiehlt sich, im Alltag und in der Pra- xis bei der Beschreibung des interaktionellen Gesche- hens zu bleiben, zum Beispiel in Anlehnung an die oben erwähnten Interaktionskanäle von Pat Crittenden (2006). ■ Die Höhe der Bereitschaft des Babys, in Kontakt zu treten, gibt einen Eindruck darüber, ob der Perspektivenwechsel in der Vergangenheit ausreichend gelungen ist.
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