KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018

FORTB I LDUNG 03 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 22 W elche Chancen liegen in der Beobachtung der frühen Eltern-Kind-Interaktion? Welches interak- tionelle Geschehen fördert oder bremst Entwicklung? Warum sind frühe Erfahrungen in Beziehungen für die gedeihliche Entwicklung wichtig? Die Beantwortung dieser Fragen soll zeigen, dass es von Vorteil für die Entwicklung von Kindern ist, wenn dysfunktionale Ent- wicklungsverläufe nicht erst im Kindergarten wahrge- nommen werden. Eltern in interaktioneller Not mit ih- ren Kleinkindern müssen gehört, ernst genommen, von uns unterstützt und früh behandelt oder triagiert wer- den. Die Erfahrung zeigt, dass sonst die Lernbiografie und die Entwicklung der Kinder belastet wird. Was müssen Neugeborene und Kleinstkinder in Beziehung zu ihren Eltern erleben, damit ihre Entwicklung von einem abhängigen, Fürsor- ge bedürftigem Selbst zu einem autonomen, sich selbst versorgenden und weitgehend zufriedenen jungen Men- schen gelingt? Die Forschung belegt vielfach: Ein Baby muss sich mit mindestens einer verlässlichen, erwachse- nen Person vertraut machen können, die in seinen Wach- phasen und in den Übergängen zum Schlaf an seiner Seite ist. Wenn diese vertraute Person Babys Sinneswahr- nehmungen, Interessen und Verhaltenszustände wahr- nimmt, ihnen Bedeutung beimisst und schliesslich durch emotionale Präsenz und Worte hilft, sich in diesen vie- len neuen Zuständen zu orientieren, wächst Vertrauen, Beruhigung und Neugier (Fonagy 2009). Dabei gibt es Herausforderungen: Manche Babys lassen sich schwer beruhigen, trotz Hilfe. Und rund 30% der Eltern gera- ten nach der Geburt selbst und unabhängig vom Baby in Stress und emotionale Not. Ihre intuitiven Kompetenzen werden durch den Stress (vorübergehend) verschüttet. Dann ist der Perspektivenwechsel erschwert. Es entste- hen «Teufelskreise negativer Gegenseitigkeit» (Papousek 2004), Eltern und Kind erreichen sich nicht. Der Zauber einer frühen, gelingenden Synchronisation bleibt aus. An seine Stelle treten Tränen, grosser Stress und mitunter das Gefühl von Verlassenheit und grosser Trauer. Wie trägt der Perspektivenwechsel der Eltern zur Entwicklung bei? Das kontinuierliche Interesse der Eltern am Erleben und Beruhigen des Babys spiegelt ihm eine vertrauenswür- dige Umwelt, die sein Wohlbefinden mehrt und seinen Explorationswunsch unterstützt. Diese Erfahrungen werden früh sichtbar in seinen Erwartungshaltungen in Interaktion: Zum Beispiel geht das Baby prompt in Kon- takt, wenn seine Stimmungen und Tönchen in der Ver- gangenheit aufgegriffen, moduliert und vielfach unter- stützt wurden. Der elterliche Perspektivenwechsel wirkt als Modell für das Baby: In Beziehung sein, ist spannend und auf schwierige Momente folgt Beruhigung. Diese zuversichtliche Verheissung pfadet seine Lernbiographie und seine Freude an Beziehung. Warum ist das «Sich-Beruhigen-Lernen» in Beziehung so wichtig für gedeihliche Entwicklung und wo liegen die Herausforderungen? Die Zeitfenster für entspannte, geteilte Emotionali- tät sind zunächst kurz. Schnell ist das Baby wieder er- schöpft, wendet sich ab, weint, muss seine Erfahrun- gen verarbeiten und sein schnell erregtes ZNS durch selbstregulative Kompetenzen und mit Unterstützung beruhigen. Die Zustände zwischen wach und bezogen und wieder müde und belastet beeinflussen sich (Als H. 1982; Bischof-Köhler 1998, Papousek 2004). Nur aus- reichend beruhigt können Babys Schritt für Schritt die Zeitfenster für Interaktion vergrössern, d. h. in Bezie- hung treten oder ruhig selber explorieren (Stern 1992). Hinzu kommt: Das Vertrauen des Babys in die Bezie- hung zur Mutter / zum Vater (als Gefährt von Entwick- lung) wächst durch die Erfahrung emotionaler Präsenz und Hilfe in Belastungssituationen.  Die Aufgabe von Eltern, ständig wechselnde Verhal- tenszustände beim Baby am Tag und oft auch in der Nacht zu begleiten, kann die seelische Balance der Eltern ins Wanken bringen und sie erschöpfen. Wechselnde Ver- haltenszustände zu begleiten, fordert von Eltern, empa- thisch zu sein und zugleich sich genügend «Ich-stark» auch vom Stress des Babys abgrenzen zu können. Ge- lingt diese Abgrenzung nicht, werden Eltern ergriffen von der Not des Babys und verlieren sich in ihr. Oder sie flüchten davor, vom Baby «angeschrien» zu werden, weil die Not des Babys sich wie ihre eigene anfühlt. Das «wächst sich aus»? Interaktionelle Not zwischen Eltern und Kleinstkindern Erfahrungen aus der Eltern-Kleinkind Beratung und Therapie LIC. PHIL. ANNA VON DITFURTH, BABY-HILFE-ZUERICH.CH Korrespondenzadresse: anna.vonditfurth@hin.ch Der Verein Bab y-hilfe-zuerich.ch hilft überforderten Eltern, die in der Betreuung ihrer Kinder nicht mehr weiterwissen. Schlafprobleme, unstillbares Schreien, auffallende Schüchternheit oder Anhänglichkeit des Kinds, Erschöpfung oder ein Ausnahmezustand der Eltern kann dazu führen, dass einem der Boden «unter den Füssen wegrutscht». Hier hilft der Verein, dass alle Fami- lien – auch bei schwieriger finanzieller Situation – eine sofortige entwicklungspsycho- logisch fundierte Unterstützung und Betreuung erhalten. Der Verein wird dabei nur von Gönnern finanziert und wir freuen uns auf ihre Unterstützung.» Für den Vereinsvorstand: Raffael Guggenheim

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx