KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
FORTB I LDUNG 03 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 20 das Kind bei einem Scheitern nicht weiss, ob es getrös- tet und gestärkt oder mit Vorwürfen konfrontiert wird, traut es sich gar nicht, seine Umgebung zu erkunden oder auf andere zuzugehen. Diese Kinder zeigen später ein widersprüchliches Verhalten: mal Nähe und sofort wieder Distanz, oder sie schlagen, kratzen und beissen. Natürlich kann dies auch in sicherem Umfeld bei akuter einmaliger Überforderung auftreten. Was sind die Voraussetzungen, damit die Eltern in einen Zustand der Bindungsbereitschaft gelangen? – Entschleunigung hilft den Eltern, sich auf die lang- same Welt der Kinder einzustellen, selbst ruhiger zu werden und sich dadurch besser zu spüren. Schnelles Tun und Handeln sind unweigerlich mit Aktivierung verbunden. – Entspannungsfähigkeit: Durch Ruhe und Selbstan- bindung fällt es den Eltern leichter, sich in die Verhal- tens- und Körpersprache ihres Kindes einzufühlen und sie zu beantworten. Stecken sie in einem Zustand von Verspannung, gelingt ihnen dies weniger verlässlich. – Selbstanbindung: Das bedeutet, dass die Wahrneh- mung des körperlichen Befindens und das emotiona- le Fühlen in Übereinstimmung sind. Physiologisch ge- sehen können die Eltern in den Phasen des ruhigen Kontaktes mit dem Kind – zum Beispiel die Mutter in den Stillzeiten – körperlich entspannen. Die Atmung wird fliessend, tief und verbindend. – Anerkennung: Mit der Anerkennung der eigenen Gefühle und der Situation erlangen die Eltern Empa- thie sich selbst gegenüber. Sie müssen nicht Energie in Verneinung stecken, die Ängste dürfen und sol- len sich zeigen. Diese Voraussetzungen erhöhen die Achtsamkeit und Stabilität der Eltern im Alltag. Es sind alles Bausteine, um in den Ruhe- und Bindungsmodus zu gelangen. Phänomene der Bindungsstärkung Verlangsamung und Ruhe erhöhen die Bindungsbe- reitschaft. Ein Gespräch in Ruhe schafft Zugang zur in- neren Befindlichkeit, zu Gedanken, Gefühlen und so zu mehr Verständnis für das Gegenüber. Gespräche schaf- fen Verbindung und Nähe. Auch emotional belastende Gedanken werden offengelegt und zugelassen. Zentrierung/Bei-sich-sein: Sind Erwachsene völlig präsent, dann sind sie fähig, sich selbst in diesem Mo- ment als Ganzes zu erleben. Wenn sie mit der Vergangen- heit beschäftigt sind oder sich Sorgen um die Zukunft ma- chen, sind sie zwar physisch da, aber geistig abwesend. Orientierung /Klarheit: Wenn Eltern klar und präsent sein können, sind sie fähig, ihre Aufmerksamkeit ande- ren zu widmen. Zwei Personen sehen die gleichen Din- ge niemals genau gleich. Gelegentliche Missverständ- nisse und Dissonanzen zwischen Eltern und Kindern sind normal und gesund. Bindungen sind oft dann ge- sichert, wenn Störungen gut überwunden und Lösun- gen gesucht werden konnten. Ein bewusstes Innehalten in einem Gespräch ermög- licht es uns, unsere Selbstanbindung zu überprüfen: «Spüre ich mich noch?», «Wie atme ich?», «Bin ich noch bei mir?» «Wie fühlt sich mein Körper an?» Unser Vorgehen bei belasteter Eltern-Kind-Bindung Die versteckte oder offene Aufforderung der Eltern zur raschen Hilfe oder der schreiende Säugling im Praxiszim- mer bedeuten eine spezielle Herausforderung. Die Ge- fahr, dass man in die Hektik der Eltern oder die sogenann- ten Helferfallen (s. Box 1) gerät, ist gross. Dazu kommt, dass man die Erwartungen der Eltern erfüllen will und in Versuchung gerät, sogleich Ratschläge zu erteilen. Oder wir bewerten innerlich die Eltern und verurteilen sie. Da sie meist in einer Beschleunigung stecken, lohnt es sich, kurz selbst innezuhalten und durchzuatmen. Die eigene vegetative Verfassung strahlt aus. Ein empathisches Zuhören mit kurzem Nachfragen, falls etwas unklar ist, gibt den Eltern das Gefühl, dass sie mit ihren Nöten ernst genommen werden. Gefühle der Eltern dürfen und sollen sich zeigen. Ebenso haben wir eine Modellfunktion, indem wir mit dem Kind spre- chen, seine Ausdruckssprache spiegeln und zu überset- zen versuchen. Sehr wichtig ist es, die Kompetenz der Eltern zu stär- ken, indem man benennt, was ihnen gut gelingt. Schon die deutlich ausgedrückte Anerkennung der Situation, in der sie stecken, bringt ihnen sehr viel Entlastung. Sie fühlen sich gehört und verstanden (Abb. 3). Vielleicht gibt es auch im persönlichen Umfeld Res- sourcen der Eltern, die Hilfe und Entlastung bringen. Helferfallen in der Krisenbegleitung – In Beschleunigung geraten / blinder Aktionismus – Nicht mehr zuhören – Ratschläge erteilen – Innerliches Werten / Verurteilen Box 1
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