KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
FORTB I LDUNG 03 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 18 W enn aus dem ersehnten Geburtsschrei in den nächsten Tagen, Wochen oder sogar Monaten ein untröstliches, lang andauerndes Schreien oder Wei- nen wird, kommen die Eltern oft an ihre Grenzen und darüber hinaus. Diese Überforderung führt meist zum Verlust der emotionalen Verbundenheit mit ihrem Kind. Wie können wir sie in dieser Situation unterstützen? Wie können wir ein Verständnis dafür wecken, dass nicht jedes Schreien Hunger oder Bauchweh bedeutet? Grundsätzlich haben wir uns Gedanken gemacht, ob wir von «Schreien» oder «Weinen» reden sollen und haben uns entschieden, beide Begriffe zu verwenden, obwohl die Eltern meist «Schreien» verwenden, wenn sie uns von ihren Nöten berichten. Wie in Teil 1 (KIS News 02/2017) beschrieben und seit- her ergänzt, unterscheiden wir drei Schreiformen. Das Bedürfnisweinen dient dem Kind als Kommuni- kationsmittel. Es erwartet eine Beantwortung seiner Sig- nale. Das bedeutet, dass die Eltern die Signale des Kindes wahrnehmen, richtig interpretieren und dem Alter des Kindes angemessen darauf reagieren. Dieses Bedürfnis- weinen entspricht einem vitalen Verlangen nach Hunger, dem Wunsch nach Aufmerksamkeit und sozialem Spiel, nach körperlicher Nähe oder auch nach Ruhe und Schlaf. Ebenso kommt eine Angstreaktion auf unvertraute Perso- nen infrage, ein Unwohlsein wegen voller Windeln und in seltenen Fällen Schmerzen. Gelingt den Eltern die Beantwortung des Bedürfnis- ses und beruhigt sich das Kind, fühlen sie sich in ihrer Kompetenz bestärkt und bestätigt. Beim Resonanzweinen reagiert das Kind auf Reize aus seinem Umfeld. Schon in den ersten Lebenstagen werden die Eltern mit vielen neuen Erfahrungen und Herausforderungen konfrontiert. Gründe dafür können eine überwältigende Geburt sein, Schwierigkeiten beim Stillen oder belastende Erwartungen aus dem familiä- ren Umfeld. Durch ein Fehlen von Ruhe und Mangel an Schlaf geraten die Eltern in Erschöpfung, Enttäuschung und Reizbarkeit. Sie fühlen sich hilflos und überfordert und verlieren den Bezug zu sich selbst. Sie sind nicht mehr in der Lage, auf das kindliche Be- dürfnis nach Sicherheit und Bindung adäquat zu reagie- ren, die Beziehung fühlt sich unverbunden und unsicher an. So reagiert das Kind mit Weinen. Die Eltern versuchen alle möglichen Beruhigungsstra- tegien, die nicht, oder nur kurz wirken, da die primäre Situation sich nicht verändert. Ein Teufelskreis entsteht. Viele Eltern fühlen sich nicht verstanden. Entweder werden sie von «professionellen Helfern» vertröstet, dass es sich bei der Schreithematik um ein vorüberge- hendes Entwicklungsphänomen («Dreimonatskolik») handle, dem nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden solle. Oder man hält sie für inkompetent. So verstärkt sich ihr Gefühl des Alleinseins, sie ziehen sich isoliert und beschämt zurück (Abb.1). Das Erinnerungs-Schreien. Eine dritte Form des Schreiens entsteht durch starke Belastungen während der Schwangerschaft oder der Geburt, die im Körperge- dächtnis (Unbewusstes) gespeichert sind. Ohne ersicht- lichen Grund beginnt das Kind zu schreien, was für die Eltern als existenziell empfunden wird. Das Kind gibt durch sein Weinen einem erlebten Schmerz Ausdruck, was als Versuch verstanden wird, Stress abzubauen. Die Unruhe wird häufig als exzessives oder unspezifisches Schreien beschrieben. Die Differenzierung der einzelnen Schreiformen ist nicht immer einfach und für das Vorgehen auch nicht primär entscheidend, wie wir nun zu erklären ver suchen. Schreien des Kindes im Kontext von Bindung und Beziehung Teil 2: Mögliche Hilfen für die Kinder und Eltern im Praxisalltag HELEN ZIMMERMANN, SEUZACH EEH-FACHBERATERIN PFLEGEFACHFRAU HF KJFF DR. MED. CYRIL LÜDIN, MUTTENZ, EEH-FACHBERATER MITGLIED REDAKTIONS- KOMMISSION Korrespondenzadresse: cyril@luedin.eu Verzweifelte Eltern – Untröstliche Babys Die Emotionelle Erste Hilfe (EEH) ist eine körperorientierte Kurzzeit-Beglei- tung für Eltern und Babys in emotionellen Krisen nach der Geburt. Sie basiert auf körperpsychotherapeutischer Grundlage und wird im Rahmen der Bindungsförderung (Prävention), der Krisenintervention und der Eltern- Baby-Therapie mit Eltern, Säuglingen und Kleinkindern angewendet. Die EEH setzt überall dort an, wo Eltern und Kinder rund um Schwan- gerschaft, Geburt und erste Lebenszeit Belastendes erlebt haben oder sich täglich in einer belasteten Situation wiederfinden. Die EEH begleitet Familien in schwierigen Situationen und verhilft zu mehr Sicherheit, Kompetenz und gestärkter Bindung. In der Krise geht es darum, die Gefühls- und Körperreaktionen, welche durch die belasteten Situationen hervorgerufen werden, zu verstehen, die Stress-Dynamik zu erkennen und gemeinsam mit der Familie Lösungsansätze zu finden. Eine Liste der FachberaterInnen finden Sie unter www.EEH Berater Schweiz. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.Emotionelle-Erste-Hilfe.org
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