KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2018
BERUFSPOL I T I K 03 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 12 J ürg Forster und Barbara Keller (Schulpsychologischer Dienst Zürich bzw. Fachstelle Logopädie der Stadt Zürich) zeigten 2017 in ihrem Artikel «LRS-Diagnostik auf neuen Wegen» auf, wie sie in der LRS-Diagnostik ab 2017 vorgehen. Die- ser Artikel kann hier heruntergeladen werden. Die Autoren legen neu einen Prozentrang von 12 fest, der unterschritten werden muss, um die Diagnose Lese- Rechtschreib-Schwäche (LRS) zu erhalten. Das mag zwar ein praktikables Kriterium sein bei durchschnittlich be- gabten Kindern. Gut und hochbegabte Kinder jedoch werden diesen Wert kaum unterschreiten – und im Gym- nasium trotzdem versagen, weil die Anforderungen hier ganz einfach viel höher sind. Bis heute ist es nach der In- ternationalen Statistischen Klassifikation ICD-10 (Inter- national Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) üblich, das Diskrepanz-Kriterium anzu- wenden: Wenn die intellektuellen Fähigkeiten mindes- tens 1.5 Standardabweichungen höher liegen als die Lese- oder Rechtschreibfertigkeiten, wird die Diagnose LRS gestellt. Liegt eine intellektuelle Hochbegabung vor, kann es zwar zu einer enormen Diskrepanz von 3–4 Stan- dardabweichungen kommen – und trotzdem wird kei- ne Diagnose vergeben, weil der Wert von Prozentrang 12 nicht unterschritten wird. Die Erfahrung zeigt, dass der Rechtschreibung in Sekundarschulen und Gymnasi- en eine grosse Bedeutung beigemessen wird. Nicht dass man sie dort lehren würde, sie wird einfach vorausge- setzt. Ausserdem sind in diesen Schulen hohe Leseleis- tungen gefordert, denn viele und komplexe Texte müs- sen schnell korrekt verstanden und verarbeitet werden. Die neue Diagnostik ist also ein grosser Nachteil für gut und hochbegabte Schüler und eine Hilfestellung (Förde- rung oder Nachteilsausgleich) wird ihnen verwehrt. Aus Sicht des Verbands Dyslexie Schweiz ist es sinn- voll, weiterhin das Diskrepanz-Kriterium anzuwenden, wie dies die WHO vorgibt. So werden auch sehr intelli- gente Kinder fair behandelt. Wenn dann die neue Sta- tistische Klassifikation ICD-11 publiziert ist, wird man weitersehen. Die Autoren betonen in ihrem Antwortschreiben an den Verband Dyslexie Schweiz, dass sie auch unter den neuen Voraussetzungen alles tun würden, um über- durchschnittlich intelligente Kinder und Jugendliche fair zu behandeln. Unsere grosse Sorge, dass durch die neue Strategie der Stadt Zürich solche Kinder und Ju- gendliche mit LRS-Problemen weder Förderung noch Nachteilsausgleich erhalten und dadurch in ihrer schuli- schen und beruflichen Laufbahn benachteiligt werden, wird durch diese Aussage allerdings nicht aus dem Weg geräumt. ■ DR. PHIL. MONIKA BRUNSTING, FACHPSYCHOLOGIN FÜR PSYCHOTHERAPIE UND SONDERPÄDAGOGIN, ZÜRICH Korrespondenzadresse: Monika.brunsting@verband- dyslexie.ch Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS)- Diagnostik in der Stadt Zürich auf neuen Wegen Der Verband Dyslexie Schweiz drückt seine Sorge darüber aus, dass über- durchschnittlich intelligente Kinder und Jugendliche in der Stadt Zürich gegenüber anderen benachteiligt werden, wenn sie unter einer Lese-/ Rechtschreibstörung (LRS) leiden. Das Vorgehen, auf das sich die Fachstelle Logopädie und der Schulpsycho- logische Dienst der Stadt Zürich vor 1½ Jahren geeinigt haben, ist online ausführlich dokumentiert (siehe https://www.stadt-zuerich.ch/lrs ). (Anmer- kung der Redaktion: Dieses Vorgehen stützt sich auf Forschungsergebnis- se, die im diagnostischen Manual DSM-5 bei spezifischen Lernstörungen wie der LRS zu einer starken Relativierung des sogenannten «Diskrepanz- kriteriums» geführt haben. Die Frage, wie ein Kind auf gezielte Förderung anspricht [Response to Intervention, RTI] sowie weitere Kriterien stehen bei der Diagnosestellung im Vordergrund. Welcher Stellenwert dem Dis- krepanzkriterium in der ICD-11 zukommt, wird auch in der Stadt Zürich mit Interesse verfolgt. Eine einfache einseitige oder schematische Anwendung des Diskrepanzkriteriums ist weder angebracht noch zeitgemäss und ent- spricht nicht mehr dem heutigen Wissensstand.) Werden in der Stadt Zürich Kinder und Jugendliche mit hoher Intelligenz und LRS beim Nachteilsausgleich nun benachteiligt? Nein, Zürcher Kinder werden keinesfalls benachteiligt. Im Gegenteil ver- mag eine differenzierte Erfassung und Förderung mehr zu leisten als bis- herige starre Richtlinien. In der Handhabung des Nachteilsausgleichs gibt es grosse Unterschiede zwischen den Kantonen und innerhalb desselben Kantons zwischen einzelnen Schulen. Hier ist noch vieles in Bewegung. Zu berücksichtigen ist, dass sich weitere Faktoren, die zu einer Benachtei- ligung führen, wie Armut, Immigration oder Fremdsprachigkeit mitunter stärker auswirken als unter Umständen eine sogenannte Behinderung. Die Zürcher Gymnasien erlauben etwa an der Aufnahmeprüfung allen Kindern den Gebrauch von Wörterbüchern. Den Kindern mit LRS kommt schon in der Volksschule entgegen, dass bei der Notengebung in den Sprachfächern neben dem Lesen und dem Schreiben auch das Sprechen und das Hörverstehen gleichwertig benotet wird. Zwischen Behinderung und Nachteilsausgleich gibt es in der Praxis kei- nen linearen Zusammenhang. Der Fokus sollte weniger einseitig auf das Aus- und Nachweisen einer Behinderung gelegt werden, da Massnah- men zum Nachteilsausgleich immer individuell angepasst sind. Stattdes- sen sollte die gezielte Förderung, der Erhalt und die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit und die Partizipation der Schülerinnen und Schü- ler im Vordergrund stehen. Intelligente Kinder mit schwachen Leistungen im Lesen oder Schreiben fallen meist schon früh auf und haben in der Stadt Zürich unabhängig vom Vorliegen einer Diagnose einen Förderanspruch. Die fachliche Einschätzung erfolgt bei allen Schüler/-innen auf der Grundlage einer Synthese aus der individuellen Vorgeschichte (Entwicklungs-, Familien- und Schulgeschichte), Schulzeugnissen, wie auch der Beobachtung des Fördererfolges (RTI). Für die beschriebenen Schüler/-innen müssen angepasste Massstäbe zur Fest- stellung von Lese- und/oder Rechtschreibstörungen herangezogen werden. Matthias Obrist, Leiter Schulpsychologischer Dienst der Stadt Zürich, Matthias.Obrist@zuerich.ch Barbara Keller, Fachleitung Logopädie der Stadt Zürich, Barbara.Keller.ssd@zuerich.ch Stellungnahme des Schulpsychologischen Dienstes und der Fachstelle Logopädie der Stadt Zürich
RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx