K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 49 01 / 2018 FÜR S I E GELESEN «Dieses Buch möchte Interesse wecken an der Vielfalt und Vielschichtigkeit und am Reichtum von Eigensprache. Ein Kind, dessen eigene Sprache aufgegriffen wird, spürt, dass ihm zugehört wird.» Mit diesen Worten führt Daniel Bindernagel in eine mir neue Welt der idiolektischen Gesprächsführung ein. «Dialekt» war mir ein geläufiges Wort, aber «Idiolekt»? Ich konnte damit nichts anfangen und erst nach dem Lesen dieses Buches wurde mir klar, wie wichtig dieser Begriff ist: «Idiolekt» ist unsere Eigensprache, «so wie mir der Schnabel gewachsen ist» – also die eigene Wortwahl, Betonung und Satzstellung – sozusagen unserem individuellen, ureigenen sprachlichen Fingerabdruck entsprechend. Auch der Begriff «idiolektische Gesprächsführung» war mir fremd. Er basiert einerseits auf der Überzeugung, dass jeder Mensch eine «innere Weisheit» hat, mit welcher er seine Problemstellung lösen kann und andererseits darauf, dass ihm bei sorgfältigem Zuhören auf seine Eigensprache geholfen werden kann. Denn jede Person benutzt ihre eigenen Worte – sogenannte «Schlüsselworte» – die ich als Arzt oder Therapeut aufnehmen kann und die dem Patient Wege zu eigenen Lösungen aufzeigen. Weil uns dieses Konzept vielleicht nicht ganz geläufig ist, führt Daniel Bindernagel sein Publikum mit einem leicht lesbaren und gut verständlichen theoretischen Abriss in dieses bereits in den 1970er-Jahren von David Jonas erarbeitete Modell der Eigensprache ein. Sein Fokus liegt auf der kindlichen Entwicklung – insbesondere auf der Entwicklung der Sprache und Eigensprache – vom Neugeborenenalter bis zur Adoleszenz. Der eigentliche Schwerpunkt des Buchs ist aber der Anwendung der idiolektischen Gesprächsführung in der Praxis gewidmet. Dabei werden diverse Situationen praktisch abgebildet: ärztliche Gespräche bei Regulationsstörungen, Verhaltens- und Sprachentwicklungsthemen im Kindergartenalter, pädagogische und psychologische Kontexte im Schulalter, die Gesprächsführung mit dem klassisch-verschlossenen Jugendlichen sowie natürlich auch der Umgang mit den Eltern. Die Autoren – Ärzte, Psychotherapeuten und Pädagogen – zeigen nach einer kurzen Einführung anhand von Fallvignetten, wie sie in gewissen Situationen mit den Eltern oder Kindern sprachen und was danach geschah. In der jeweils folgenden Reflexion wird die Leserschaft auf die eigensprachlichen Prozesse, die Schlüsselworte und die Eigenart der idiolektischen Gesprächsführung sensibilisiert. Dieses Buch hat mich wirklich beeindruckt. Wenn mir diese Konzepte bereits früher bekannt gewesen wären, dann hätte ich in vielen Fällen das Gespräch viel besser leiten können, indem ich Schlüsselworte nicht übersehen, sondern aufgegriffen und offen nachgefragt hätte! Gerade bei Jugendlichen reagiere ich bei der Aussage «Weiss nicht!» oder «Keine Ahnung!» – wenn sie wegen eines spezifischen Problems von den Eltern zu mir in die Praxis gebracht werden – mit Hilflosigkeit oder Aktionismus. Dasselbe passiert mir auch immer wieder bei Schreibabys! In Bindernagels Buch werden Wege gezeigt, wie mit gutem Zuhören auch schwierige Situationen einen erfreulichen Verlauf nehmen können. Die innere Haltung der Würde, mit welcher wir bedingungslos anderen Menschen gegenübertreten; wach und neugierig zu bleiben auf unser Gegenüber; in die gegenseitige «Resonanz» zu kommen und auf die Sprache des anderen zu achten – dies sind einige der Ideen, welche ich von der Lektüre dieses Buches mitnehme. Und nicht zuletzt erinnerte ich mich während des Lesens immer wieder an einen Leitsatz aus meiner Praxisassistenz bei Sepp Holtz: «Wir führen Hörstunden durch, nicht Sprechstunden!» Dieses Buch ist ein «Muss» für alle Kinderärzte, welche in ihrer Praxis mehr als nur Husten, Schnupfen und Pneumonien behandeln möchten. DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM, ZÜRICH, LEITER REDAKTIONSKOMMISSION Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch Die Eigensprache der Kinder Idiolektische Gesprächsführung mit Kindern, Jugendlichen und Eltern – von Daniel Bindernagel (Hrsg.)
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