KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2018

01 / 2018 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 25 steht, wenn der Schädelindex über der Norm liegt, wobei verschiedene, teilweise altersabhängige Grenzwerte verwendet werden. Der in Tabelle 3 erwähnte Normbereich 75–90 ist pragmatisch weit gefasst, sodass auch konstitutionelle oder ethnisch bedingte Variationen miteingeschlossen werden. Eine Schweregradeinteilung wie beim Plagiocephalus findet man beim Brachycephalus in der Literatur kaum. Wir bezeichnen einen Brachycephalus mit einem Schädelindex von 90–100 als leicht, 100–110 als moderat und >110 als schwer. Der isolierte lagerungsbedingte Plagiocephalus ist deutlich häufiger als ein isolierter Brachycephalus, wobei noch häufiger eine Kombination beider Deformitäten vorliegt. Ein relevanter lagerungsbedingter Scaphocephalus ist selten und vor allem bei Frühgeborenen zu beobachten. Therapie Bei der Erstellung des Therapiekonzeptes sind nicht nur der klinische Typ und das objektive Ausmass der Deformität entscheidend. Auch die Dynamik, insbesondere der Verlauf unter den allfälligen bisherigen Massnahmen, das Alter des Kindes, seine psychomotorische Entwicklung, das Vorhandensein von Risikofaktoren wie oben beschrieben, die Ethnie und nicht zuletzt die Erwartungen der Eltern müssen berücksichtigt werden. Eine stetige Progredienz eines Plagio- oder Brachycephalus trotz Gegenmassnahmen, eine beginnende Gesichtsasymmetrie, eine voraussichtlich länger persistierende Einschränkung der Kopfbeweglichkeit oder der Mobilität allgemein (z.B. Bettlägerigkeit nach grösseren Operationen) oder eine Entwicklungsverzögerung sind Argumente, bei der Therapie einen Schritt weiter zu gehen. Umgekehrt sind viele leichte lagerungsbedingte Schädeldeformitäten bei zunehmender Mobilität des Kindes selbstlimitierend und bedürfen keiner spezifischen Behandlung. In den ersten 4 Lebensmonaten stehen Stimulations- und Lagerungsmassnahmen im Vordergrund [7]. Das Kind soll von allen Seiten, im Falle einer Seitenpräferenz vor allem von der Gegenseite, stimuliert werden, durch Licht, Geräusche, Spielzeuge oder ein aufgehängtes Mobile. Die Eltern sollen darauf achten, von welcher Seite sie das Kind ansprechen oder ihm den Schoppen anbieten, damit es möglichst viel Motivation hat, den Kopf auf die nicht bevorzugte Seite zu drehen. Durch entsprechende Lagerung, z.B. mithilfe eines unter Schulter und Rücken geschobenen Handtuchs oder eines Lagerungskissens, soll die abgeflachte Partie des Schädels möglichst entlastet werden. Unnötig lange Aufenthalte im Autositz und Babysitter sind zu vermeiden. Im Wachzustand oder unter kontrollierten Bedingungen auch zum Schlafen soll die Bauchlage geübt werden («tummy time»). Bei Einschränkungen der Kopfbeweglichkeit, wie z. B. bei einem muskulären Torticollis, bei Auffälligkeiten in der Motorik (Tonus- oder Bewegungsasymmetrie) und bei Unsicherheit oder Überforderung der Eltern ist frühzeitig eine Physiotherapie in die Wege zu leiten, zur spezifischen Behandlung oder auch nur zur Instruktion und Begleitung der Betreuungspersonen. Von schulmedizinischer Seite umstritten sind der Einsatz von Spezial- oder Lochkissen, da damit die Kopfbeweglichkeit der Kinder oft deutlich eingeschränkt wird, sowie weitere Behandlungsformen wie Chiropraktik, Osteopathie und Craniosacraltherapie. Viele Eltern entscheiden sich letztendlich für eine Kombination von verschiedenen Therapien, wogegen auch nichts einzuwenden ist, so lange sich die Massnahmen ergänzen und nicht entgegenwirken. Ab dem Alter von 4 Monaten sollte je nach Ausmass der Schädeldeformität und dem bisherigen Therapieerfolg ergänzend eine Behandlung mit einer craniocervikalen Schädelorthese in Erwägung gezogen werden. Diese wird optimal im Alter von 4–6 Monaten begonnen und spätestens im Alter von 12 Monaten beendet. Details zu dieser Therapie werden in einem separaten Artikel abgehandelt (siehe: «Orthesen-Behandlung»). Ob ein nicht oder ungenügend behandelter lagerungsbedingter Plagio- oder Brachycephalus Folgeschäden nach sich zieht, ist umstritten und grösstenteils nicht wissenschaftlich untersucht. Diskutiert werden Hör- und Gleichgewichtsstörungen, ophthalmologische Probleme wie Refraktionsdifferenzen, Ober- und Unterkieferasymmetrien mit Störungen in den Kiefergelenken und der Zahnstellung sowie skoliotische Fehlhaltungen. Das A und O im Management der lagerungsbedingten Schädeldeformitäten ist deren Prävention. Alle Eltern sollen bereits von der Hebamme und der Elternberatung sowie anlässlich der Erstuntersuchung durch den Kinderarzt auf das Thema aufmerksam gemacht und bezüglich der entsprechenden Stimulation und Lagerung instruiert werden. Diese Massnahmen sind einfach, kostengünstig und effektiv. ■ REFERENZEN [1] American Academy of Pediatrics AAP Task Force on Infant Positioning and SIDS: Positioning and SIDS. Pediatrics. 1992 Jun;89(6 Pt 1):1120–6. [2] Kane AA, Mitchell LE, Craven KP, Marsh JL. Observations on a recent increase in plagiocephaly without synostosis. Pediatrics. 1996 Jun;97(6 Pt 1):877–85. [3] Argenta L, David L, Thompson J. Clinical classification of positional plagiocephaly. J Craniofac Surg. 2004 May;15(3):368–72. [4] Linz C, Kunz F, Böhm H, Schweitzer T. Positional skull deformities – etiology, prevention, diagnosis, and treatment. Dtsch Arztebl Int 2017;114: 535–42 [5] Wilbrand JF, Schmidtberg K, Bierther U, Streckbein P, Pons-Kuehnemann J, Christophis P, Hahn A, Schaaf H, Howaldt HP. Clinical classification of infant nonsynostotic cranial deformity. J Pediatr. 2012 Dec;161(6):1120–5. [6] Dörhage K. Ursache und Diagnostik der lagebedingten Plagiozephalie. Eine Übersichtsarbeit. Manuelle Medizin 2010;48:125–34. [7] Dörhage K. Klinische Bedeutung, Prophylaxe und Therapie der lagebedingten Plagiozephalie. Manuelle Medizin 2010;48:135–40.

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