KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2018

FORTB I LDUNG 01 / 2018 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 20 DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM, ZÜRICH, LEITER REDAKTIONSKOMMISSION Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch Interview mit unseren Co-Editoren über Kopfwachstum und -deformitäten Lieber Benjamin, liebe Kerstin RG: Ihr stellt uns in dieser Ausgabe viele Artikel diverser Fachleute zum Thema Kopfwachstum und Deformitäten vor. Jeder zeigt, wie wichtig seine Abklärung/Therapie zur Besserung der Situation des Säuglings und der Familie ist. Was sollen wir als Kinderärzte in der Praxis da mitnehmen? BL: Wie oft im Leben gibt es verschiedene Wege, die zum Ziel führen. Jeder Kinderarzt hat eine schulmedizinische Aus- und Weiterbildung absolviert und ergänzt dieses Wissen im Verlauf seiner Praxistätigkeit mit Fortbildung und Erfahrung. Er wird mit verschiedenen Disziplinen in Kontakt kommen, Therapien und Menschen kennenler- nen, für die einen Sympathie entwickeln und für andere nicht, mit den einen gute Erfahrungen machen und mit anderen nicht. Wichtig scheint mir, dass man seine Grundausbildung nicht vergisst, sich ein Behandlungskonzept zurechtlegt und dieses immer wieder kritisch hinterfragt. Bei der Behandlung von Schädeldeformitäten gibt es oft verschiedene Optionen und in der Regel ist keine Therapie die einzig richtige und keine nur falsch. RG: Einige Themen bleiben offen. Rolf Temperli meint, wir Kinderärzte in der Praxis seien genügend erfahren um z. B. eine Helmtherapie krankenkassenpflichtig zu verordnen. Was meint Ihr dazu? KW: Ich persönlich bin sehr froh, die wenigen Kinder, bei denen ich wirklich denke, dass sie evtl. einen Helm brauchen, an Benjamin Liniger überweisen zu können. Bezüglich Helme hat er sicher sehr viel mehr Erfahrung als ich – wenn sich aber jemand selbst mit dem Thema Helmtherapie ausführlich beschäftigt hat und sich selber zutraut, diese initiieren und überwachen zu können, sollte nicht die Krankenkasse darüber entscheiden können, ob ein Kinderarzt das kann oder nicht. BL: Grundsätzlich sollte jeder Arzt die Krankheitsbilder, die er behandelt und die Therapien, die er verschreibt oder durchführt, kennen, inklusive Indikationen, zu erwartende Verläufe, Komplikationen beziehungsweise unerwünschte Wirkungen. Bei der Helmtherapie ist es genau so. Wenn sich ein Kinderarzt die Beurteilung einer Schädeldeformität zutraut – was oft oder sogar meistens der Fall sein wird –, die Indikationen für eine Helmbehandlung kennt und sie auch begleiten kann, soll er sie verordnen dürfen. Es liegt sicherlich nicht an den Krankenkassen, hier regulatorisch einzugreifen. RG: Und wie seht ihr das grundsätzlich mit all den Therapien? In Deinem Übersichtsartikel über Kopfwachstum (Liniger B. Natürliches Schädelwachstum, S. 22–25) bist Du ja skeptisch, ob die überhaupt was bringen… BL: Bei den meisten dieser Therapieformen fehlt der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass sie keine Wirkung haben. Von all den erwähnten Therapien ist die Physiotherapie der Schulmedizin am nächsten. Sie kann meines Erachtens das grösste Spektrum der Ursachen für lagerungsbedingte Kopfdeformitäten therapeutisch abdecken, so zum Beispiel die muskulären und arthrogenen Dysfunktionen, die Körper- und Umgebungswahrnehmungsstörungen. Physiotherapeuten können die Eltern ausserdem gut bezüglich Handling und Übungen zu Hause instruieren, sodass die Behandlung auch zu Hause weitergeht. Viele Kinder sind schon in irgendeiner Behandlung, wenn sie zu mir in die Sprechstunde kommen, meistens haben sie schon 2–3 Sitzungen Osteopathie absolviert. Nicht wenige Eltern berichten mir dann, dass das Kind seit dieser oder jener Therapie den Kopf viel besser drehe und die Schädelabflachung bereits abgenommen habe. So gesehen lässt sich auch nichts gegen diese Behandlungen einwenden, auch wenn das entsprechende Krankheitsmodell aus meiner schulmedizinischen Sicht nicht nachvollziehbar ist. Für mich gibt es aber klare Grenzen. Bei ausbleibendem Therapieerfolg muss die Strategie überdacht und die Therapie wenn möglich geändert oder ergänzt werden. Therapiekombinationen sind in manchen Fällen sinnvoll, zum Beispiel Physio- und Helmtherapie bei muskulärem Torticollis mit schwerem Plagiocephalus, in anderen Fällen überflüssig. Eine Kraniosynostose hingegen lässt sich nicht wegtherapieren. In diesen Fällen diskutiere ich mit den Eltern, ob eine Operationsindikation besteht und wenn ja, welche Eingriffe infrage kommen, aber nicht, ob sich nun Osteopathie oder Craniosakral- therapie besser eignet, um eine Operation zu umge- hen. RG: Ja Kerstin – wie gehst Du denn konkret in der Praxis vor: Physio, Cranio, Osteo, Chiro, Ortho oder einfach «Nihilo»? KW: Ich schaue bei allen Kindern, insbesondere schon bei der 1-Monats-Kontrolle, suche geradezu nach «krummen Köpfen», da man durch sehr frühzeitige Lagerungs- und Stimulationsmassnahmen in mei-

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