KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2017

K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 49 04 / 2017 FÜR S I E GESEHEN ( F I LMKR I T I K ) Mit dem Kinofilm «24 Wochen» zum Thema Abtreibung und Behinderung von Anna Zohra Berrached wurde bereits 2016 ein deutschsprachiger Film zum Thema an der Berlinale gewürdigt und hat das Thema – als Drama aber mit einem direkten Bezug zur Wirklichkeit – nähergebracht. Der israelische Kurzfilm «Woche 23» von Milstein ist dagegen ein vorwiegend biografisches Werk, welches die Schwangerschaft von Milsteins Partnerin beschreibt. Diese wird mit eineiigen Zwillingen schwanger und als der eine Zwilling abstirbt, wird dem Paar dringlich empfohlen, den zweiten Fötus abzutreiben, da dieser mit grosser Wahrscheinlichkeit an einer schweren Hirnschädigung leidet. Der Film begleitet insbesondere die Mutter und zeigt in sehr gefühlvoller Nähe ihr sehr persönliches Erleben in einem zunächst freudigen, später sehr schwierigen Umfeld. Dabei treffen ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe aufeinander. Einerseits die christlich-evanglisch aufgezogene Schweizerin Rahel mit einem starken inneren Gefühl, dass Leben in jeder Form wertvoll sei, andererseits der säkular-israelische Filmemacher Ohad, dessen wichtigster Wunsch ist, gesunde Kinder zu haben. Im Film wird diese Dissonanz in der Wertbeurteilung ausserordentlich schön und feinfühlig nähergebracht. Dabei kommt vor allem die Mutter zu Wort und ihre Gedanken und Gefühle werden im Kontext der medizinischen und familiären Realität mit viel Ruhe und Pausen dem Zuschauer nähergebracht. Auch die Familien werden in ihren Gefühlen und ihrer Zerrissenheit gezeigt – und es fehlen beispielsweise auch nicht schwere, vorwurfsvolle Szenen zwischen der israelischen Schwiegermutter, welche offensichtlich in ihrer eigenen Biografie mit dem Thema leichtfertig umgegangen war, und der schwangeren Mutter. Die Beurteilung der Ärzte kommt erfreulicherweise nur aus der Wahrnehmung der Betroffenen vor – es handelt sich ja um einen persönlichen Film und keine Doku! Dabei zeigt sich, wie sehr diese von den gesellschaftlichen und statistischen Vorgaben geprägt sind: Das Risiko einer Schädigung ist einfach zu hoch, um eine schwere Behinderung zu riskieren, welche Familie und Gesellschaft in einem grossen Mass belasten würden und die scheinbare Sicherheit einer bereits befürchteten Diagnose führt dann auch zu einer Fehlbeurteilung in der Sonografie, was für die Eltern natürlich doppelt schlimm ist. Hier spüren wir auch die grosse Medikalisierung im israelischen Gesundheitswesen, wo das Machbare (in unserem Fall ein medizinisch indizierter Spätabort) auch durchgeführt werden muss. Zum Schluss kommt mit Alva gegen alle Statistiken und ganz dem Urgefühl der Mutter entsprechend ein gesunder Bub zur Welt.  Happy End! – würde man denken; doch der Film ist emotional viel zu berührend, als dass es darum gehen würde, ob nun das Kind gesund oder krank ist oder ob die Eltern oder die Ärzte recht gehabt haben. Vielmehr zeigt er uns, wie wichtig und vielschichtig der Umgang mit Eltern sein kann, welche im Rahmen einer Schwangerschaft mit so viel Hoffnung, Erwartung, aber auch Angst und Trauer erfüllt sind. Ich erlebe in meiner Sprechstunde immer wieder, wie sehr sich Mütter mit einem verstorbenen Zwilling auseinandersetzen – die Intensität, mit welcher sie seine kurze Lebenszeit in ihrem Körper wahrgenommen haben und wie wichtig ihnen das richtige Abschiednehmen ist. Dasselbe sehen wir in der Schreibabysprechstunde bei Müttern mit einer belasteten Schwangerschaft: In vielen Fällen werden ihre Sorgen und Gefühle einfach nicht wahrgenommen und es fehlt den behandelnden Fachleuten das Bewusstsein, diesen Müttern und Eltern ein entsprechenden Holding zu geben. Gerade deswegen ist der Film für mich nicht nur aus mütterlicher Sicht, sondern insbesondere auch aus Sicht des später behandelnden Kinderarztes besonders wertvoll und ich empfehle sehr, ihn anzusehen. ■ Gesehen auf SRF1 Sternstunde Religion vom 6.8.17 «23 Wochen» Downloadbar über Youtube «Week 23 Ohad Milstein» (Englisch mit hebräischen Untertiteln) Woche 23 – Die Entscheidung DR. MED: RAFFAEL GUGGENHEIM, ZÜRICH, LEITER REDAKTIONSKOMMISSION Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch

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