KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2017

K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 35 03 / 2017 REDAKT IONELLE SE I TEN ser Form zu bewältigen haben, nämlich dem Phänomen der nicht restlosen Planbarkeit. Pädiatrisch zu arbeiten bedeutet gerade nicht ein striktes Umsetzen eines vor- gegebenen Plans, sondern es bedeutet, eine unmittel- bare und passende Reaktion auf die Befindlichkeit des Kindes zu finden, auf seine Gemütslage, auf seine Be- dürfnisse in seiner Situation des Jetzt und Hier. Pädiatrie ist daher ein Prozess der immer wieder neuen Adaptati- on; sie ist jederzeit gefordert, sich der Besonderheit des Kindes, seiner Situation, seines Umfeldes anzupassen, sie adaptiert Zug um Zug, und auf diese Weise ist sie angehalten, einen Arbeitsmodus zu finden, der gerade nicht im Abarbeiten einer Checkliste aufgehen kann. Praxeologie der Behutsamkeit Das Entscheidende in der Pädiatrie ist somit das inter- aktiv-dialogische Vorgehen, das bestimmt ist durch die Haltung des Herantastens. Der Pädiater agiert unwei- gerlich tentativ. Identitätsstiftend für die Pädiatrie ist da- her eine Praxeologie der Behutsamkeit. Pädiatrie ist eine Disziplin des behutsamen Herantastens und der feinen Balance. Das Finden der Balance ergibt sich aus der di- rekten Wahrnehmung des Kindes und vor allem aus dem Dialog mit dem Kind und seinen Eltern. Die un- verzichtbare Könnerschaft in der Pädiatrie liegt in der Kunst des richtigen Abstimmens, und gerade deswe- gen gehört zu den unverzichtbaren Grunddispositionen in der Pädiatrie die Disposition der Offenheit und der Neugier. Nur so kann die Pädiatrie dazu befähigt wer- den, etwas zu verwirklichen, was nicht hoch genug ge- schätzt werden kann, nämlich situative Kreativität. Die Behandlung in der Kinder- und Jugendmedizin ist ein hochkreativer Prozess, der das Zusammenkommen vie- ler Arbeitsleistungen notwendig macht. Die kontextori- entierte Erschliessung des der Situation Gemässen ist der entscheidende Punkt der Pädiatrie, und genau des- wegen geht die Therapie in der Kinder- und Jugendme- dizin nicht in der Kategorisierung von Kindern auf, son- dern in der Erkundung der Besonderheit eines jeden Kindes und der Besonderheit einer jeden Situation, in der sich die professionelle Interaktion vollzieht. Die Pro- fessionalität des Pädiaters kommt gerade dadurch zum Zuge, dass er befähigt ist, auch dort, wo ein Rest an Un- bestimmtheit bleibt, dennoch handlungsfähig zu sein. Integratives Denken In der Kinder- und Jugendmedizin geht es immer um al- les. Es geht immer um das Ganze des Lebens, das dem Kind bevorsteht, es geht um Entscheidungen, die Aus- wirkungen haben auf eine ganze Biografie. Kinder- und Jugendmedizin ist daher ein Gebiet, das schon von sei- nem Adressatenkreis her eine Ganzheitlichkeit bean- sprucht. Denn wenn es um das Ganze des Lebens geht, dann wird sofort klar, dass der Pädiater selbst an das Ganze denken und das rein Technische unweigerlich übersteigen muss, weil er sich hineinversetzen muss in das zukünftige Leben dieses Kindes und seiner Familie. Und so ist der Kinderarzt wie kein anderer immer an- gewiesen auf einen ganzen Blick, ist ihm doch zu sehr bewusst, dass die primär medizinische Versorgung al- lein nicht ausreicht, um dem Kind zu helfen; die gute medizinische Versorgung muss eben zwangsläufig ge- koppelt werden an eine gute Betreuung, an eine gute Beratung der Eltern, an eine pädagogische Begleitung. Kinder werden nicht allein durch die Medizin zu einem guten Leben befähigt, sondern erst durch die Kombina- tion von Medizin und familiärem Beistand, pädagogi- scher Unterstützung und sozialer Anerkennung. Es geht somit in der Kinder- und Jugendmedizin immer um das Erfassen des gesamten Problemzusammenhangs, und dieser Zusammenhang macht ein integratives Denken notwendig, ein Denken, das die Vielfalt der Aspekte zu- sammenführen kann. Der Pädiater ist grundsätzlich ein integrativ denkender Mensch, sonst kann er seinen Be- ruf gar nicht ausüben. Das multiperspektivische Sehen von Ganzheiten ist der zentrale Arbeitsmodus der Pädi- atrie, weil man nur so das Gesamtempfinden des Kindes erfassen kann. Die Pädiatrie braucht multikontextuelles Verstehen, das Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit zu- lässt, sie braucht ein Denken in Komplexität – und das ist genau das Gegenteil der Stromlinienförmigkeit, die un- ter der produktionslogischen Perspektive der gesamten Medizin als vermeintlich neuer Wert übergestülpt wird. Schlussfolgerungen Gute pädiatrische Behandlung kann nicht reduziert werden auf die Optimierung der Prozessqualität, son- dern Prozessqualität muss in den Dienst der entschei- denden Beziehungsqualität gestellt werden, denn ohne die Qualität der Beziehung kann auch das beste Be- handlungsregime nicht fruchten. Die Kinder- und Ju- gendmedizin ist professionelle Hilfe durch gelingende Interaktion auf der Basis von wissenschaftlicher Experti- se in Verknüpfung mit verstehender Zuwendung (Maio 2015). Und deswegen sollte die Kinder- und Jugend- medizin gerade heute im Zeitalter einer ökonomischen Überformung der gesamten Medizin entschieden dafür kämpfen, dass in ihrem Hoheitsgebiet nicht primär pro- duktionstechnische Werte gefördert werden, sondern vor allem beziehungsstabilisierende Werte wie Zuhör- bereitschaft, Geduld, Weitsichtigkeit, Reflexivität, Auf- merksamkeit und tiefe Wertschätzung für jedes Kind. Diesen zentralen Schlüssel zum Erfolg pädiatrischer Be- handlung darf sich die Pädiatrie in unserer durchökono- misierten Zeit nicht aus der Hand nehmen lassen, wenn sie Pädiatrie bleiben will. ■ LITERATUR: Maio, Giovanni: Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung. Freiburg: Herder 2015.

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