KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2017
K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 34 REDAKT IONELLE SE I TEN 03 / 2017 Vom Primat der Ökonomie in der Kindermedizin Das verhängte Ideal der Behandlungsschablone Gegenwärtig findet eine komplette Überformung der medizinischen Rationalität durch eine betriebswirt- schaftliche Logik statt. Wirtschaftsprinzipien überneh- men die Deutungshoheit über die Ausgestaltung der gesamten Medizin und leider auch der Pädiatrie. Die Normen des ökonomisierten Systems stammen aus der industriellen Massenproduktion, und sie werden unre- flektiert auf die Medizin übertragen. Dem liegt eine ver- einfachende Vorstellung von ärztlicher Betreuung zu- grunde. In den Köpfen der Verantwortlichen wird die Leistung der Ärzte reduziert auf das Anbieten standar- disierter Behandlungsschablonen. Ausgehend von einer irrigen Vorstellung des Arztes als eines Ingenieurs für den Menschen übernimmt man nicht nur eine gesamte Qualitätssicherung, die ursprünglich für den ingenieur- wissenschaftlichen Kontext konzipiert war, sondern viel gravierender noch, man unterwirft die gesamte Medizin einer Checklisten-Rationalität, die zu einer verhängnis- vollen Überformalisierung, Überregulierung und Über- bürokratisierung führt. Die Verbürokratisierung der modernen Medizin führt somit zu einer Abwertung ver- ständigungsorientierter Entscheidungswege und somit genau der Gesichtspunkte, die für die Ärzte in ihrer Be- rufswahl und Sozialisation motivationsleitend und iden- titätsstiftend waren. Mit diesen Überlegungen soll verdeutlicht werden, dass in der gesamten modernen Medizin eine betriebs- wirtschaftliche Formallogik etabliert wird, mit der nicht nur Abläufe, sondern auch Werte vorgegeben wer- den. In einem betriebswirtschaftlich abgerichteten so- zialen System findet eine Umwertung der Werte statt; hochgeschätzt werden formalisierungsaffine Werte wie Stromlinienförmigkeit und Reibungslosigkeit, unter- schätzt und aus dem Wahrnehmungsmuster verbannt werden alle interaktionsbezogenen und beziehungsori- entierten Werte. Gefördert wird somit nicht die indi- viduelle Anpassung, sondern das Repetitive, nicht das Singuläre, sondern das Standardisierte, nicht das Be- sondere, sondern das Gewöhnliche. Finale Folge ist die Beförderung eines Trends zur Entdifferenzierung ärztli- chen Denkens. Dass aber gerade die Kindermedizin an- ders funktioniert und andere Werte hat, soll anhand von drei zentralen Werten, die für die Kindermedizin von besonderer Bedeutung sind, aufgezeigt werden. Arbeit in der Begegnung Selbstverständlich braucht die Kindermedizin Zahlen, sie braucht Studiendaten, sie braucht Statistik und ex- terne Evidenz, aber die Qualität pädiatrischer Behand- lung bemisst sich nicht allein nach Zahlen – so wichtig diese auch sind – sondern sie bemisst sich danach, ob die direkte Interaktion mit dem Kind und seinem so- zialen Umfeld im Hier und Jetzt auch gelingt. Mithilfe der Statistik kann man einen evidenzgestützten Behand- lungsplan entwerfen, und das ist unabdingbar, aber das ist nur der erste Schritt. In der Pädiatrie geht es nicht nur um das Was, sondern ganz besonders um das Wie. Erfolgversprechend in der Pädiatrie ist es gerade nicht, sich fest entschlossen des Kindes zu bemächtigen und das Geplante an ihm zu vollziehen, sondern es gilt herantastend auf das Kind zuzugehen, um herauszu- finden, wie zu vollziehen ist, und zwar vollziehen nicht im Sinne eines Abarbeitens eines Plans, sondern vollzie- hen im Sinne eines Arbeitens in der Begegnung. Pädia- trie ist nichts anderes als ein Vollzug in der Begegnung. Und weil sich pädiatrische Behandlung unhintergehbar innerhalb einer Begegnung realisieren muss, ist die Kin- der- und Jugendmedizin unweigerlich mit etwas kon- frontiert, was sehr wenige andere Disziplinen in die- PROF. DR. MED. GIOVANNI MAIO, M.A. PHIL., LEHRSTUHL FÜR MEDIZINETHIK AM INSTITUT FÜR ETHIK UND GESCHICHTE DER MEDIZIN, ALBERT- LUDWIGS-UNIVERSITÄT, D-FREIBURG IM BREISGAU Korrespondenzadresse: maio@ethik.uni-freiburg.de Ökonomie und Ethik in der Pädiatrie: Am 2. März 2017 hielt Prof. Maio eine vielbeachtete Rede im Kinderspital Zürich zum Thema «Über die Um- wertung der Werte in einer ökonomisierten Kinderme- dizin». Im Folgenden hat er seine Gedanken freund- licherweise noch einmal zusammengefasst, um den Inhalt einer grösseren Leserschaft zugänglich zu ma- chen. Dafür möchten wir ihm herzlich danken. Harald Schütze Zur Person: Prof. Giovanni Maio leitet seit vielen Jah- ren das Institut für Medizinische Ethik an der Univer- sität in Freiburg im Breisgau. Giovanni Maio hat sich immer wieder zu aktuellen ethischen Themen in die öf- fentliche Diskussion eingebracht. In den letzten Mona- ten hat er darauf hingewiesen, dass die Vorstellungen einer nachhaltigen Medizin, welche auf einem Bezie- hungsgefüge zwischen Patient und Behandlungsteam beruht, immer mehr in Konflikt kommen mit den öko- nomischen Ansprüchen der Institution «Krankenhaus». Kommentar von Dr. med. Harald Schütze, Zürich
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