K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 40 FORTB I LDUNG 02 / 2017 Schreien und Krankheiten: Fast alle Krankheiten und Schmerzen gehen mit Schreien einher. Akute Formen sind meist infektiöse Erkrankungen oder eine Inguinalhernie bis hin zum akuten Darmverschluss. Bei rezidivierenden Schreiattacken finden wir selten Unverträglichkeiten oder einen gastroösophagealen Reflux. All diese Krankheiten machten in der Schreiambulanz von Frau Papouschek höchstens 10% aus, und praktisch nie konnte durch eine Behandlung der Krankheit das Schreien beeinflusst werden. Neugeborene haben ein existenzielles Bedürfnis nach Berührung. Der Tastsinn erwacht beim Embryo nach sechs Wochen, bei kaum einem Zentimeter Grösse. Eine leichte Berührung an der Oberlippe löst in dieser Zeit einen starken Fluchtreflex aus. Haut und Gehirn entstehen aus den gleichen Urzellen. In der 3. und 4.SSW differenziert sich das Ektoderm in Haut und Neuralgewebe. Jede Berührung bringt eine Vielzahl geistiger Reaktionen ins Rollen und beeinflusst die Hirnentwicklung. Gewalttätigkeit und Wut stehen nachweislich in Beziehung zu taktiler Entbehrung, eine Ursache für spätere Hyperaktivität, Depression und Aggression im Kindesalter (Abbildung 5). Alle Erfahrungen sind im Zellgedächtnis gespeichert. Die Anerkennung dieser prä- und perinatalen Geschichten, auch Traumen, sind bis heute nahezu ein Tabu. Ein Baby, dessen Verletzlichkeit nach seiner Geburt erkannt und gespürt wird, kann sich gesund entfalten und erfährt auch eine Heilung seiner Schreianfälle. Der unsicher gebundene Säugling schreit zwar bei einer ersten Trennungserfahrung und vermisst seine primäre Bindungsperson. Wird auf sein Weinen nicht adäquat reagiert, wird er resignieren. Diese Kinder werden zu «ruhigen» Säuglingen, sie verbergen ihre Verzweiflung, täuschen Zuversicht vor. Um sich zu beruhigen, schlagen sie sich, suckeln, lutschen an Übergangsobjekten, klammern oder schaukeln sich. Bei wiederholtem Stress können sie auch verschlossen, überangepasst ruhig reagieren. Im Kleinkindesalter fallen sie hyperaktiv auf, oder zwanghaft selbstständig, vermeidend, distanzlos gegen Fremde (unsicher ambivalente oder vermeidende Bindung). C) Das Dissonante Schreien: Der Babytherapeut Matthew Appleton beschreibt noch eine dritte Form des Schreiens, das Dissonante Schreien. Dies gründet auf ungelösten Traumata. Meist sind dies massive Partnerschaftsprobleme oder Eltern mit eigenen Trauma-Anteilen in ihrer Biografie. Für das Kind wird es durch das inkohärente Verhalten und die mangelnde Feinfühligkeit der Eltern schwierig, eine sichere Bindung aufzubauen. Das Kind findet keinen Halt, keine Sicherheit. Die Eltern brauchen dringend Ressourcen und kompetente Hilfeangebote, um einer Erschöpfungsdepression vorzubeugen. ■ Literatur beim Verfasser auf Anfrage: eltern-kind-bindung.net In einem späteren Teil 2 werde ich auf die Aspekte des Schreiens und Lösungsmöglichkeiten näher eingehen. B) Das Erinnerungsschreien: Die weitaus häufigere Problematik des Schreiens begegnet uns als exzessives oder unspezifisches Schreien und beeinträchtigt die Eltern massiv. Unsere bisherigen Konzepte sind für unsere Praxen aber unbefriedigend. Ich erlebe in kollegialen Gesprächen noch einen starken Widerstand gegen die Anerkennung der Existenz von pränataler Erlebniswelt und deren Langzeitfolgen für die Persönlichkeitsentwicklung. Doch hinter einem Schreianfall verbergen sich Erinnerungen, die Ungeborene in der Schwangerschaft und während der Geburt erfahren haben. Ausgelöst durch ein Geräusch, eine Farbe oder einen Geruch beginnen die Babys ohne ersichtlichen Grund zu schreien und möchten so einen Schmerz verarbeiten, ausdrücken oder auflösen. Weinen kann verstanden werden als Versuch, Stress abzubauen. Sie manipulieren uns nicht, brauchen aber unsere Präsenz und Aufmerksamkeit (Abbildung 6). Abbildung 6 Abbildung 5
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