KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2017

02 / 2017 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 39 hängigkeit nur entwickeln kann, wenn es lernt, Zeit alleine zu verbringen. Man sollte dem Bindungswunsch des Kindes also nicht jederzeit und sofort nachgeben. Studien zeigen aber, dass jene Säuglinge, die in den ersten Monaten häufig in den Arm genommen werden, bis zum Ende des ersten Lebensjahres eine grosse Unabhängigkeit entwickeln, zusätzlich noch motorisch und kognitiv besser sind. Es ist geradezu unmöglich, einem Baby in den ersten neun Lebensmonaten zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Man kann aber das Kind auf den Arm nehmen, um damit von seinem Bedürfnis zu weinen abzulenken, was dann zu einem «verwöhnten» Verhalten führen kann. Die Epigenetik Wir müssen verstehen lernen, was unsere Babys zutiefst geprägt hat. Wir leben schon als Embryo in enger Verbindung mit dem Körper und Psyche von Vater und Mutter. Das vorgeburtliche Leben hat einen grossen Einfluss auf unser Selbstbild und unser Verständnis von unserer Lebensumwelt. Wir erleben Schwangerschaft und Geburt nicht in einem «seelenlosen» Zustand, sondern als psychisch hochsensible Wesen (Abbildung 3). keit von Interaktionen zwischen Mutter, Vater und Baby (Triade), verstärkt über Spiegelneuronen (Abbildung 4).  Angstbetonter Stress während der Schwangerschaft, Partnerschaftsprobleme, eine unbefriedigende Arbeitssituation oder (zu) häufige Kontrollen bei uns Medizinern verursachen bereits intrauterin Veränderungen der Pulsrate, des Blutdrucks, der Körpertemperatur und können schmerzstillende Botenstoffe wie Serotonin und Oxytocin freisetzen.  Die Regulation der Genaktivität (35000 menschliche Gene) unterliegt in hohem Masse situativen Einflüssen und aktuellen Umgebungsbedingungen – und ist nicht genetisch vererbt. Das Geheimnis der Gesundheit liegt, was die grosse Mehrheit der Krankheiten betrifft, nicht im Text der Gene, sondern in der Regulation ihrer Aktivität. Krankheiten werden so intrauterin programmiert. (s. Artikel Pränatale Prägung und ADHS, KIS News 01/2016). Schreiformen aus der Sicht des Kindes A) Das Bedürfnisschreien ist aus der Sicht des Kindes ein Signal, ein Kommunikationsmittel. In menschlichen Gesellschaften, die noch nomadisch leben, gehört es zur Überlebensstrategie, dass Neugeborene laut schreien, wenn sie Körperkontakt und Nähe zur Mutter verlieren. Dieser ethnologisch tief verwurzelte Wunsch nach Körperkontakt ist ein Bedürfnis des Kindes und braucht auch heute noch eine prompte und effektive Antwort von Vater oder Mutter, obgleich unmittelbare Feinde in unserer Gesellschaft nicht mehr erkennbar sind. Weitere Bedürfnisse sind Hunger oder der Wunsch nach sozialem Spiel, nach Ruhe. In Frage kommen auch eine Angstreaktion auf unvertraute Personen und Umgebungen, ein Unwohlsein wegen nasser Windeln, Überreizung oder auch Schmerzen.  Gelingt den Eltern beim Bedürfnisschreien eine rasche Beruhigung, fühlen sie sich bestärkt und motiviert. Abbildung 3 Abbildung 4  Schon bei der Entdeckung der Schwangerschaft sind wir bei vollem Bewusstsein, in voller Wahrnehmung und wollen gesehen, berührt werden. Die Eltern geben uns ihre negativen wie positiven Gefühle weiter. Die Plazenta und die Nabelschnur sind das erste Beziehungs- und Bindungsobjekt des Menschen. Das Herz ist als pulsierendes Organsystem das bioenergetische und emotionale Zentrum des Bindungsgeschehens. Die Neuralentwicklung wird durch den Herzschlag der Mutter, ihre Atmung und Bewegung allgemein erst ermöglicht. Bau und Funktion des Gehirns sind in Abhängig-

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