KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2017

FORTB I LDUNG 02 / 2017 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 38 Prägungen In den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Forschungsgruppen (Neuropädiater, Kinderpsychiater, Molekularbiologen, Prä- und Perinatal-Therapeuten) aufgezeigt, dass das vorgeburtliche Leben einen grossen Einfluss hat auf unsere Basisaffekte wie Bindung und Selbstwertgefühl, Vertrauen und Sicherheit, aber auch Misstrauen und Unsicherheit.  Die positiven Gefühle fördern beim Kind die Reifung derjenigen Hirnareale im orbitofrontalen Kortex, die für die Selbstregulierung von Erregung (Arousal) zuständig sind (Abbildung 1). Schreiformen im bisherigen Verständnis Als Schulmediziner kennen wir das unspezifische oder physiologische Schreien, bei dem die Ursache als soziales oder körperliches Bedürfnis erkennbar ist. Den Eltern gelingt die rasche Beruhigung. Daneben existiert das pathologische oder exzessive, oder auch unspezifische Schreien nach Remo Largo. Das exzessive Schreien wurde 1954 durch Morris Wessel definiert mit der bekannten «3er-Regel», ergänzt durch eine Beeinträchtigung der Mutter durch das Schreien und Quengeln. Die elterlichen Empfindungen einer Belastung sind aber sehr unterschiedlich. Eine Beeinträchtigung der Eltern muss immer ernst genommen werden. Bemerkungen wie «das gibt sich bald» oder «da muss man durch» sind unpassend. Prophylaxe In Gesellschaften, in denen Säuglinge einen engen Körperkontakt zur Mutter haben und vorwiegend herumgetragen werden, ist das Schreien weniger ausgeprägt. Mary Ainsworth stellte fest, dass Säuglinge in den ersten drei Monaten dreimal weniger schreien, wenn sie in unmittelbarem Kontakt zur Mutter stehen (Abbildung 2). Die Verwöhnfalle: Viele Eltern, Grosseltern, aber auch Freundinnen der Mutter sind der Meinung, dass ein Kind seine UnabSchreien aus der Sicht des Kindes Teil 1: Neuere Sichtweisen auf die Regulationsfähigkeiten des Säuglings DR.MED. CYRIL LÜDIN, MUTTENZ Der erste Schrei unmittelbar nach der Geburt löst bei den Anwesenden Glücksgefühle und Erleichterung aus. Ganz anders Stunden oder Tage nach der Geburt. Das Schreien eines Säuglings lässt niemanden, insbesondere aber die Eltern nicht, unberührt. Das Schreien versetzt sie in Alarmbereitschaft, und je länger dies dauert, desto unerträglicher wird die Situation.  Aus der intrauterinen Zeit oder vom Geburtsgeschehen nehmen wir diverse Gefühlszustände aus unserem Umfeld wahr. In dieser Zeit sind wir Menschen unendlich verletzbar. Alles was uns widerfährt, wird in unserem Körpergedächtnis gespeichert und prägt unsere Gene.  Kinder, die im Mutterleib von Stresshormonen überflutet werden, leiden womöglich ihr Leben lang unter der vorbewussten Erfahrung.  Werden diese Erfahrungen, die sich oft in exzessivem (untröstlichem) Schreien ausdrücken, im Volksmund «Dreimonatskoliken» genannt, empathisch gehört, anerkannt und liebevoll begleitet, können sie sich heil- sam wandeln. Gerade weil sich das Gehirn noch in einer sehr intensiven Entwicklung befindet, können Babys schneller geheilt werden, sie haben eine hohe Salutogenese. Wir müssen die Sprache der Kinder verstehen lernen. Abbildung 1 Abbildung 2

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