KINDERÄRZTE.SCHWEIZ
01 / 2017 FORTB I LDUNG K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 23 Bären beschäftigt und mit den Eigenschaften von Frisch- käse. Nach ca. einer halben Stunde schleckt er ganz vor- sichtig und von den Eltern unbeobachtet einen Keks ab und legt ihn schnell wieder hin. Am Ende der Sitzung hat er drei neue Nahrungsmittel in seiner Art und seinem Tempo exploriert, ohne zu würgen. Die Eltern stellen fest, dass sie durch das Gespräch abgelenkt waren und sich etwas entspannt haben. Diagnose: schwere, bisher unerkannte sensorische Nahrungsaversion mit Anteilen einer posttraumatischen Fütterstörung. In der Folge beeinträchtigte Autonomie- entwicklung beim Essen. Könnte verwechselt werden mit: «picky eating», «In- teraktionsstörung», bei der die Mutter das Kind nicht von der Brust lassen will. Therapie: Die Eltern können die Instruktion sehr gut umsetzen, Mathis selbst machen zu lassen und Füt- terversuche mit dem Löffel wegzulassen. Unterstützt durch logopädische Therapie zur Verminderung der Hypersensibilität im Mundbereich bessert sich die Sym- ptomatik rasch, Mathis kann sich verschiedenen Spei- sen annähern, die er selbstständig essen kann; Un- terstützt durch Gespräche mit der Kinderpsychiaterin schafft es die Mutter, ihrem Sohn seinen Hunger zu- zumuten und das nächtliche Stillen wegzulassen. Da- durch kommt es zu einer (vorher von uns angekün- digten) vorübergehenden Gewichtsstagnation, Mathis kann jedoch bald adäquate Mengen selbstständig es- sen und sich wieder an seine frühere Gewichtskurve annähern. ■ Essstörung Hauptmerkmal Gewicht Behandlung Sensorische Nahrungs aversion (häufigste Störung) Würgen, Erbrechen, Überforderung bei der Einführung neuer Speisen; aversive Reaktion auf bestimmte Konsistenzen, Geschmäcker, Gerüche. Meist normal, oft Fehlernährungen Rechtzeitig (am besten so früh wie möglich, sicher vor 20. LM) logopädisch, eventuell inter- disziplinär. Posttraumatische Essstörung Plötzliches Einsetzen bei vorher normaler Essentwicklung, nach Trauma/Überforderung. Panische Reaktion und Abwehr bereits bei Ansicht des Schoppens/des Löffels. (Drohendes) Untergewicht Trigger müssen vermieden werden; interdiszipli- näre Behandlung (Psychiatrie, Logopädie, Ernährungsberatung). Infantile Anorexie Kind zeigt kaum Interesse am Essen und hat nicht genügend Appetit, um ausreichende Mengen freiwillig zu sich zu nehmen. Oft erbitterter Machtkampf. Untergewicht Meist Säuglings-Eltern-Psychotherapie erfor derlich. Zusätzlich Beratung durch erfahrene Ernährungsberaterin. Störung der Eltern- Säuglingsreziprozität Eltern können Signale des Kindes nicht lesen/ interpretieren z.B. Hungersignale fälschlich als Aggression; oft psychische Erkrankung der Eltern oder Sucht. Bedrohliches Untergewicht Achtung, Kinderschutz! Kommen meist notfall- mässig ins Spital. Das Überleben, v.a. von Säug- lingen ist bedroht. Müssen oft platziert werden. Frühe Essstörung im Zusammenhang mit einer bestehenden medi- zinischen Erkrankung Bedingt durch medizinische Erkrankung ist Kind zu schwach (z.B. bei kardiologischen Erkrankungen) oder darf aufgrund medi zinischer Interventionen nicht oral ernährt werden. Meist drohendes Untergewicht, oft Sondierung notwendig Immer Ernährungsberatung während Sonden- phase; nach Wegfall der medizinischen Ursachen oft logopädische Unterstützung notwendig, da Übungsdefizit. Frühe Essstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation Beginnt im Neugeborenenalter; Kind kann Zustand von ruhiger auf- merksamer Wachheit zu wenig halten, um adäquat zu trinken. Manchmal Gedeihstörung Oft reicht Beratung/Unterstützung, damit Eltern ihrem Kind helfen, sich adäquat zu regulieren. Störung der oromoto rischen Entwicklung Je nach Entwicklung kann Kind motorische Anforderung nicht erfül- len: bei Säuglingen motorisch bedingte Trinkschwäche (kann nicht saugen oder nicht koordinieren), später Probleme der Kaumotorik oder des Transports der Nahrung im Mund. Teilweise extrem auffällig anmutende Interaktion (z.B. Verabreichung von Brei mit der Spritze). Bei grösseren Kindern meist normal, bei Säuglingen mit motorisch bedingter Trinkschwäche Sondierung erforderlich. Logopädische Therapie. Essstörung bei allge meinen Entwicklungs- auffälligkeiten Das Essverhalten entspricht nicht dem chronologischen Alter, da das Kind insgesamt z.B. in seiner motorischen Entwicklung beeinträchtigt ist. Probleme entstehen, wenn Eltern z.B. von ihrem Kind, das noch nicht sitzen kann, erwarten, dass es vom Löffel isst. Meist normal Entwicklungspädiatrische Beratung, heil pädagogische Früherziehung, Logopädie. Emotionale Störung mit Nahrungsvermeidung Das Essverhalten ist im Rahmen einer emotionalen Problematik gestört. Die Kinder wirken nicht nur beim Essen verstört, dissoziieren, zeigen Symptome von Angst, Depression oder Aggression. In der Regel Auftreten i.R. einer familiären Problematik, oft mit einem psychisch kranken Elternteil. Manchmal, nicht immer, untergewichtig Behandlung durch psychiatrische/psycholo- gische Fachperson im Frühbereich; grosszügige Indikation zu stationärer Beobachtung. Tabelle 2: Frühkindliche Essstörungen.
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