KINDERÄRZTE.SCHWEIZ

FORTB I LDUNG 01 / 2017 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ 22 bleme der Oromotorik, Infantile Anorexie (immer mit Gewichtsverlust), posttraumatische Fütterstörungen so- wie Essverweigerung als Ausdruck einer emotionalen Störung. (Eine vollständige Auflistung der klinischen Essstörungen der frühen Kindheit siehe Tabelle 2) . Hinweise für Interventionsbedarf: Untergewicht verlangt ohnehin zunächst eine Ab­ klärung eventueller körperlicher Ursachen der Gedeih­ störung. Idealerweise findet parallel dazu bereits eine psychologische Begleitung der Familie statt. Anamnese Berichtete Auffälligkeiten im Essverhalten, die auch bei normalgewichtigen Kindern auf frühkindliche Essstö- rungen hinweisen können: – Kind zeigt keine eindeutigen Signale für «Hunger», isst nur kleine Mengen und hat kein Interesse am Essen – Kind reagiert negativ auf neue Nahrungsmittel, würgt, erbricht – Kind kann keine altersadäquaten Konsistenzen verar- beiten (kaut z. B. noch nicht mit 20 Monaten) – Kind wird im Schlaf mit der Flasche ernährt – Kind braucht zum Essen immer mehr Ablenkung – Kind verweigert das «Gefüttertwerden», akzeptiert aber sofort Fingerfood – Starke Kontrolle der Eltern bei Mahlzeiten – Dauer der Mahlzeiten >45 min/Mahlzeit – Dauer der Beschäftigung mit Essen >5 h/Tag – Eltern haben selbst aufgehört, mit Kind zu essen – Die Probleme ums Essen dominieren den Familien­ alltag und verhindern andere Aktivitäten – Die Eltern berichten, sie hätten schon «alles probiert» und profitieren nicht mehr von Ratschlägen Beobachtung Den grössten Aufschluss über die Problematik bekommt man, wenn man das Kind direkt beim Essen beobachten kann. Die Eltern können ein Video von einer Esssituation erstellen und mitbringen. Noch aufschlussreicher ist es, gemeinsam mit der Familie zu essen. Statt über das Kind zu sprechen, kann sein Essverhalten und das seiner Eltern direkt beobachtet werden. Das Kind kann sich in all sei- nen Facetten zeigen, wir bekommen einen Eindruck von Motorik, Sensorik, vom Entwicklungsstand, Kommunika- tionsverhalten und vom szenischen Gestalten der Esssitu- ation innerhalb der Familie. Darüber hinaus ergeben sich bereits zahlreiche Möglichkeiten für Mikrointerventionen. Fallbeispiel Ich treffe den 14 Monate alten Mathis und seine El- tern zu einem ersten Termin im Restaurant des Kinder- spitals. Auf dem Weg von der Poliklinik zum Restaurant hatte er mit verhaltener Neugier intensiven Blickkon- takt zu mir aufgenommen. Mathis wirkt altersentspre- chend entwickelt, aufgeweckt und fröhlich. Auf die vie- len Reize im Restaurant reagiert er mit Interesse und lässt sich auf ein kleines Spiel ein, während wir den Platz an einem Tisch vorbereiten. Die Eltern wirken sehr an- gespannt, äussern, wie froh sie sind, dass sie kommen durften. Sie hätten das Gefühl, dass niemand sie ernst nehme. Sowohl die Mütterberaterin als auch der Kinder- arzt sagten immer, das Kind sei normal entwickelt und «sehe doch gut aus». Niemand könne jedoch ermessen, welch grosse Probleme und Sorgen sie zu Hause hätten: Mathis werde immer noch hauptsächlich von Mutter- milch ernährt. Diese verlange er mit grossem Nachdruck, vor allem auch nachts (bis zu 7 Mal). Jegliche Versuche mit halbfester und fester Nahrung seien gescheitert. Ne- ben der Muttermilch von der Brust akzeptiere Mathis nur Wasser aus der Trinkflasche sowie eine bestimmte Quark- sorte (Himbeerquark von der Migros), die man ihm geben könne, während er einen Film auf dem iPad schaue. So- bald andere Nahrung sich ihm annähere, würge oder er- breche er. Die Eltern sind überrascht von meiner einzigen Anweisung (alle Erwachsenen essen), lassen sich schliess- lich darauf ein, für sich etwas zu essen zu holen. Im Ver- lauf des gemeinsamen Mittagessens verfolgt Mathis neu- gierig das Geschehen, lässt sich auf kleine Spiele mit dem von mir mitgebrachten Kindergeschirr und kleinen Men- gen Esswaren ein. Er beginnt, Nahrungsmittel vorsichtig mit den Fingern zu explorieren. Sobald ein Elternteil ver- sucht, Mathis etwas einzugeben oder ihm etwas zu essen anbietet, reagiert das Kind mit heftiger Abwehr, Weinen und Wegdrehen. Beim Anblick des Löffels fängt er an zu würgen. Als ich die Eltern bitte, jegliche Fütterversuche und Angebote für eine Weile zu unterlassen, schaut mich Mathis mit grossen Augen intensiv an. Die Eltern konzen­ trieren sich nun darauf, mir ihre grosse Not zu schildern, den Druck in der Grossfamilie, ihr Gefühl, die einzigen zu sein, die nicht mal ihr Kind zum Essen bringen kön- nen. Sie wundern sich, dass Mathis bisher noch nicht er- brochen hat, was er sonst während Mahlzeiten meist tut. Mathis hat sich inzwischen mit dem Zerkleinern von Pom- Alter/ Monate Entwicklungs- thema In Bezug aufs Essen Anforderung an Beziehung Pränatal Körperliche Einheit mit Mutter Ernährt werden über Nabel- schnur; Partizipation an von Mutter bereitgestellten Sinnes- eindrücken Kind: orale Selbststimulation Eltern: Ausrichtung auf Elternrolle, das fantasierte Kind  0–4 Symbiose; basale Zustands­ regulation Saugen lernen (Kraft, Koor- dination); Hunger erkennen, Hunger und Sattheit regulieren Kind: Hunger/Sattheit signalisieren Eltern: Signale richtig deuten und adäquat reagieren  4–6 Welt der Objekte entdecken Orale und taktile Exploration; Übergang zum Löffel 1 und erste Beikost Kind: Aufmerksamkeit auf Essen fokussieren Eltern/Beziehung: Erste Konflikte von Nähe und Distanz müssen bewältigt werden  6–12 Bindung – Tren- nung; beginnende Individuation Übergang zum Löffel 2; selbst- ständigeres Essen, Koordi­ nation zwischen Hand- und Mundmotorik Kind: Kooperation Eltern: Feinfühligkeit Konflikt: Abhängigkeit versus Auto- nomie 12–30 Individuation, Autonomie, Objektpermanenz, Mentalisierung Essen vom Tisch; Das Kind wird in die grössere (Tisch-)Gesellschaft eingeführt. Kind: den eigenen Willen erkennen und mit dem der anderen in Einklang bringen; Ängste bewältigen; Kompro- misse eingehen lernen, verhandeln Eltern: Regeln und Esskultur der Familie entwickeln Tabelle 1: Entwick- lungsaspekte und Essen. (Die Monatsangaben entsprechen Durch- schnittswerten und können stark variieren).

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