Zenit Nr. 3, September 2019

10 Pro Senectute Kanton Luzern 3 | 19 Alle Menschen überall haben Nachbarn – die Bedeutung und die Ausgestaltung der Nachbarschaftsbeziehung unterscheidet sich jedoch in der Zeit und je nach sozialem Kontext stark. Prof. Simone Gretler Heusser* spürt den aktuellen Veränderungen in den Nachbarschaftsbeziehungen nach. Nahbare Nachbarn Die Mondlandung vor fünfzig Jahren erlebte ich als Vier- jährige vor dem Fernseher unserer Nachbarin Jane Hawkins. Sie, die US-Amerikanerin in Genf, hatte meine Familie in ihre Wohnung eingeladen. Ob aus patrioti- schen Gründen oder weil wir – als Einzige im Haus schon damals, 1969 – keinen Fernsehapparat besassen, weiss ich nicht. Aber die grobkörnigen Bilder und abgehackten Männerstimmen aus dem kleinen, fast eiförmigen Fern- seher gehören zu meinen ersten Erinnerungen. Jane Hawkins wohnte unter uns im zweiten Stock, eine freundliche, ältere Dame mit silbergrauemHaar und einer Butterfly-Brille, eine Art in die Jahre gekommene Mary Poppins. Wenn meine Schwester und ich im Treppenhaus am Boden liegend Urtiere spielten und uns fortbewegten, indem wir uns wie Taschenmesser auf- und zuklappten, freute sich Mrs Hawkins über unsere Fantasie. Mit ihr und ihrer schwarz-weissen Katze Gipsy – meine Mutter sagt, sie habe noch eine zweite Katze namens Jelly gehabt, aber in meiner Erinnerung gibt es nur Gipsy – philosophierte ich auf dem grossen Stein im Garten. In welcher Sprache redeten wir? Sie war Amerikanerin, ich sprach nur Schwei- zerdeutsch. Einmal gingen wir beide Hand in Hand durch die Stadt, wohin sie mich manchmal auf dem Rücksitz ihres älteren Autos mitnahm. Vor uns tauchte ein Laternenpfahl auf. Würde ich ihre Hand loslassen? Mit ihr links vom Laternenpfahl vorbeigehen oder sie rechts zu mir hinü- berziehen? Sie überliess die Entscheidung mir, schaute mich gespannt lächelnd aus ihren eisblauen Augen an. Wie wir den Laternenpfahl schliesslich umgingen, weiss ich nicht mehr, aber an den Moment der Erkenntnis, dass es unterschiedliche Möglichkeiten zur Überwindung eines Hindernisses gibt, erinnere ich mich ganz genau. Die Nachbarn meiner Kindheit waren neben Mrs Hawkins «Madame Goni» (eigentlich Gauthier) im Par- terre, eine kleine, etwas mäusegesichtige Frau, die immer ein Stück Schokolade für mich hatte, sofern ich höflich darum bat, und die vornehmen De Rougemonts, bei der alle Familienmitglieder hinter den Stühlen am Esszim- mertisch standen, bis die Dame des Hauses erschien und die Mahlzeit eröffnete. Meine Grossmutter hat ein paar Jahre später den Vater De Rougement spätabends gerufen, als ich hochfiebrig mit Masern darniederlag, während meine Eltern auf Geschäftsreise in den Niederlanden weil- ten. Er war Arzt. Typisch für Nachbarschaftsbeziehungen ist die eigen- tümliche Verbindung von Intimität und Fremdheit. 1 Das gilt für die Nachbarn meiner frühen Kindheit, und das gilt auch heute. Ich weiss, wann die Nachbarin im fünften Stock gegenüber ins Bett geht, höre das Neugeborene im Nachbarshaus nachts weinen und die gregorianischen Gesänge des Nachbarn unter mir. Wir kennen recht per- sönliche Gewohnheiten und Eigenheiten unserer Nach- barn, aber manchmal kennen wir nicht einmal ihren Namen, haben keine Ahnung von ihrem Beruf oder ihren persönlichen Interessen. In einer Zeit, in der auch feste Beziehungen häufig nur einen «Lebensabschnitt» lang Bestand haben und man sich – zumindest in den sozialen Netzwerken – nicht nur be-, sondern auch entfreunden kann, in einer Zeit, in der es vorkommt, dass Kinder keinen Kontakt zu ihren Eltern mehr wünschen, in einer solchen Zeit sind Nachbarn irgendwie anachronistisch. Denn während wir fast alle engen und lockeren Beziehungen unseres Lebens gestal- ten, sind Nachbarn einfach da. Man kann sie nicht wählen oder nur sehr indirekt, indem man beispielsweise ein be- stimmtes Quartier oder eine spezifische Wohnform wählt. Sie kommen und gehen, wie es ihnen passt. Nachbarn können sehr nah und unangenehm präsent sein (etwa in der schlecht isolierten Hochhauswohnung) oder weit weg, ausser Sichtweite gar, etwa im isoliert stehenden Haus oder der ummauerten Villa auf dem Land. 1  Brombacher, Simon; Heusser, Gretler, Simone; 2016: «Neue Nachbarschaften? – Neue Nachbarschaften!» In: Störkle, Maria; Durrer, Eggerschwiler, Bea; Emmenegger, Barbara; Peter, Colette und Willener,Alex (Hrsg.), 2016: «Sozialräumliche Entwicklungsprozesse – in Quartier, Stadt, Gemeinde und Region, Luzern»: inter-act Verlag Luzern, 70-77. 2  https://sociology.stanford.edu/sites/g/files/sbiybj9501/f/publications/the_strength_of_weak_ties_and_exch_w-gans.pdf Foto: Peter Lauth

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